VON DER GÖTTLICHEN ORDNUNG IN DER MUSIK (I)
Sta. Maria del Fiore
Am Sonntag, den 18. März 1436, dem Sonntag laetare («Freudensonntag»), verleiht Papst Eugenius IV. der Kathedrale und der Stadt Florenz die goldene Rose – eine Ehrbezeugung die einer Institution oder einem Herrscher, der sich um die Kirche besonders verdient gemacht hat, zukommt. Bezug dieses Brauchs, der sich bis ins 19. Jahrhundert hinein gehalten hat, ist Jesaias 66,10:
«Laetare Ierusalem: et conventum facite omnes qui diligitis eam: gaudete cum laetitia, qui in tristitia fuistis: ut exsultetis, et satiemini ab uberibus consolationis vestrae.»
(Freut euch mit Jerusalem! Jubelt in der Stadt, alle, die ihr sie liebt. Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr über sie traurig wart. Saugt euch satt an ihrer tröstenden Brust, trinkt und labt euch an ihrem mütterlichen Reichtum! – Einheitsübersetzung 2016 des Katholischen Bibelwerks)
Obwohl Brunelleschis gewaltiger Kuppelbau noch nicht vollendet ist, wird Eugenius IV. den Dom Sta. Maria del Fiore am Tag der Schutzpatronin und dem Neujahrstag der Stadt, dem 25. März (Mariä Geburt), weihen. Er beauftrag den franco-flämischen Komponisten und Sänger der päpstlichen Kapelle Guillaume Dufay mit der Komposition einer Festmottete Nuper rosarum flores sowie einer Sequenz Nuper almos rosae flores. Gianozzo Manettis Bericht [1] ist der einzige, der etwas über die Musik, die an diesem Tag erklang, sagt – Auskunft über Aufführungszusammenhänge (Zeitpunkt und Ort) der beiden Stücke gibt er indes nicht.
Mit Nuper rosarum flores verwandt sind die beiden sich ebenfalls auf Florenz beziehenden Motetten Salve flos Tuscae gentis und Mirandas parit. Sowohl proportionale Ordnung als auch der zugrundeliegende Choral «Circumdederunt me viri mendaces», der in Florenz an Palmsonntag (dem Tag, der 1436 mit Mariä Verkündigung zusammenfiel) gesungen wird, und die musikalische Textur (Doppeltenor, proportionale Ordnung 6 : 4 : 3 : 2) von Salve flos Tuscae gentis weisen auf einen engen Zusammenhang zu Nuper rosarum flores hin. Mirandas parit, ein Gruß an die «Mädchen» der Stadt (vielleicht der Städte, die zum florentiner Herrschaftsgebiet gehörten) gehört möglicherweise zum nicht-liturgischen Teil der Festlichkeiten. Gleichwohl sind die strukturellen Verbindungen der Motette zu den oben genannten Kompositionen stark ausgeprägt.
Die folgende Zusammenfassung der analytischen Untersuchung der Motette (Teil 1) und der Deutung ihrer Struktur (Teil 2) basiert auf einer Untersuchung, die ich zusammen mit meinem Kollegen Hans Ryschawy bereits 1988 vorgelegt habe. Sie findet sich im Band 60 der Schriftenreihe Musik-Konzepte (herausgegeben von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, ISBN 3–88377–281–X).
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Dufays vierstimmige Motette ist in zwei Quellen überliefert: Modena B f. 67v–68r und Trient 92f. 21v–23r (No.1381). Die Motette ist vierstimmig und enthält an einigen Stellen zusätzliche Noten, die der Verstärkung der Klangwirkung dienen. Beide Quellen verwenden weiße Mensuralnotation, die Klangzusatznoten sind geschwärzt.
Die proportionale Ordnung der Tenores (und damit des des Stücks) zeigt in den Mensuren einen chiastischen Aufbau: 6 : 4 : 2 : 3.
Die Tenores
Der Motette zugrunde liegt ein Doppeltenor, der viermal wiederholt und in durchbrochener Technik quasi-kanonisch (Tenor primus/Tenor secundus) geführt wird. Er ist aus dem Beginn des Introitus In dedicatione ecclesiae im 2. Modus Terribilis est locus iste gewonnen. Er gliedert sich in 2 x 7 Töne. Der Tenor primus ist dabei auf die Oberquart transponiert, der Tenor secundus auf die Oberquint des Tenor primus. Das Tenorfundament, das einen Umfang von 14 Mensur-einheiten hat, ist – was die Einsatzfolge der Töne anbelangt – proportional gegliedert in 7 + 7 (3 + 4 bzw. 4 + 3). Die mit x bezeichneten Tonwiederholungen wurden weggelassen.
(In der Skizze wurden jeweils die Töne in der Reihenfolge ihres ersten Auftretens im Ablauf des Doppeltenors markiert.)
Die Einsatzfolge der Tenorestöne ist diese (Ton 1 ist aus klanglichen Gründen verschoben):
Auch seine Anlage kann damit «chiastisch» genannt werden. Der Wechsel der Führungsrolle der Tenores teilt die insgesamt 56 Dauerneinheiten nach dem Verhältnis des goldenen Schnitts. Die Anzahl ihrer Noten- und Pausenzeichen der Tenores sind nach kleinen ganzzahligen Verhältnissen geordnet.
Die Makrostruktur der Motette – sie zeigt insgesamt 8 Abschnitte – wird bestimmt durch die regelmäßige Abfolge zwei- und vierstimmiger Anschnitte. Ein vierstimmiges Amen beschließt das Stück.
Der Kadenzplan
Der Kadenzplan der Motette zeigt 3 x 7 + 1 Kadenz = 22 Kadenzen. Der äußeren Vierteiligkeit wohnt also eine innere Dreiteiligkeit inne.
Das gilt auch für die Mensureinheiten, deren Zahl jeweils 28 beträgt. 28 ist 4 x 7, darüber hinaus Triangularzahl 7. Ordnung (1+2+3+4+5+6+7) und perfekte Zahl (1+2+4+7+14) im pythagoräischen System.
Die Ausdehnung des Stücks (cantus-firmus gebundene Teile) beträgt 168 Mensureinheiten. Am Ende der zweiten Textstrophe wird sie in 64 ME : 104 ME geteilt. Die Anzahlen der Töne betragen 364 bzw. 589. Beide Teilungen erfolgen im Verhältnis des Goldenen Schnitts.
64 – 104 – 168 Mensureinheiten
364 – 589 – 953 Töne (ohne Amen-Töne)
Die Oberstimmen
Die Anzahl der Oberstimmentöne (inkl. Amen-Töne) beträgt 968. Tenorestöne und Klangzusatznoten ergeben die Tonanzahl 198. Die Summe aller Töne der Motette ist damit 1166 (33 x 33 + 77).
Die beiden Oberstimmen (Triplum und Motetus) zeigen eine perfekte Ordnung in Spiegelzahlen. Spiegelzahlen sind Zahlenpaare und Einzelzahlen gleicher Ziffernfolge bei jeweils entgegengesetzter Leserichtung (Beispiel: 22, 151 oder 351–153).
Sie ähnelt der lambdaförmigen Darstellung der pythagoräischen Tetraktys (Standardabweichung: 11):
Die Zahl 153 ist Triangularzahl 17. Ordnung. Ihre Spiegelzahl ist ebenfalls eine Triangularzahl (26. Ordnung). (Erst die Zahlen 17578 und 87571 sind wieder zugleich Triangular- und Spiegelzahlen.)
Teil III.1 der Motette zeigt ein Melisma auf den Buchtaben «O» (von oratione). Der Kanon, der zu Beginn dieses Teils steht, wird über 32 Töne korrekt geführt. In Takt 123 endet er auf einer in metrischer und modaler Hinsicht nachgeordneten Clausula simplex. Das Triplum hat – einschließlich der Ultima der Kadenz – insgesamt 34, der Motetus 33 Töne. Da der 34. Ton des Triplums für die Klauselbildung unabdingbar ist, haben wir von einem Kanon über 33 + 33 Töne auszugehen.
Der «Kern»
Abschnitt III.1 der Motette zeigt also folgende Tonanzahlen:
Melisma in III.1 77 Töne
Resttöne der Motette Triplum + Motetus 891 Töne
X =1089 Töne (33x33)
Tenorestöne + Klangzusatznoten 198 Töne
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1166 Töne
1166, die Gesamtzahl aller Töne der Motette, ist 33 x 33 + 77. Je 33 Töne umfasst der Kanon, 77 das Melisma in III1. Abschnitt III1 kann so als «Kern» der Motette bezeichnet werden. Dieser «Kern» enthält das Ganze.
Der Text
1. Nuper rosarum flores (I)
ex dono pontificis
hyeme licet horrida
tibi vorgo celica
pie et sancte deditum
grandis templum machine
condecorarunt perpetui.
2. Horie vicarius
ihesum christi et petri
successor Eugenius
hoc idem amplissimum
sacris templum manibus
sanctisque liquoribus
consecrare dignatus est. (II)
3. Igitur alma parens
nati tui et filia
virgo decus virginum
tuus te Florencie
devotus orat populus
ut qui mente et corpore
mundo quiquam exorarit,
Oratione tua (III)
cruciatus et meritis
tui secundum canem
nati domini sui (IV)
grata beneficia
veniamque reatum
accipere mereatur. Amen.
Der Text der Motette – vier Strophen zu je 7, insgesamt also 28 Zeilen – weist eine ebenfalls auffällige Zahlenstruktur auf:
Triplum 484 Buchstaben
Motetus 484 Buchstaben
Tenor II (22 x 4) 88 Buchstaben
Tenor I (22 x 4) 88 Buchstaben
Amen Ten. I + II 8 Buchstaben
Insgesamt zählt der Text 1152 Buchstaben, 198 Silben, 82 Wörter und 28 Zeilen. 1152 ist 8 x 144. 1152 gehört der achtfachen Fibonacci-Folge an, auf der die gesamte Dauer der Motette und ihre Teilung nach dem Goldenen Schnitt beruhen: 64 Takte – 104 Takte – 168 Takte. Seine 198 Silben entsprechen der Anzahl der Tenorestöne + Klangzusatznoten. Die 82 ist Spiegelzahl zu 28. Die 28 (perfekte Zahl, Triangularzahl 7. Ordnung und 4 x 7) entspricht der Anzahl der Mensureinheiten eines jeden Teils der Motette. Es ist offensichtlich, dass die Ordnung des Textes der musikalischen Ordnung entspricht. Mithin kann als gesichert gelten, dass Dufay der Autor des Textes ist.
[1] Vgl. dazu: Sabine Zˇak: «Der Quellenwert Giannozzo Manettis Oratio über die Domweihe von Florenz für die Musikgeschichte», in: Die Musikforschung 40/1 (1987), S. 2–32.