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HINTER DEM SPIEGEl …Spekulationen über Guillaume de Machauts Rondeau «Ma fin est mon commencement»


Für Hans 4.März 2022


Das lateinische »fascinare«, auf das wir zurückgreifen, wenn wir uns von etwas oder jemandem »fasziniert« zeigen, bedeutet »verzaubert«, seinerseits zurückgehend auf einen Begriff, den wir längst aus unserem sprachlichen Repertoire gestrichen haben: »behext«. Die Musik des französischen Komponisten Guillaume de Machaut fasziniert immer auf’s Neue – beim Hören und noch mehr, schauen wir sie uns in der originalen Notation an …



Hinter dem Spiegel
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Machaut (ganz rechts) empfängt die Natur und drei ihrer Kinder.

Aus einer Pariser Handschrift




Der Komponist

Guillaume de Machaut stammt vermutlich aus Machault, einem knapp 40 Kilometer von Reims entfernten Dorf, wo er

zwischen 1300 und 1305 geboren wurde. Das erste Dokument, das seine Existenz beglaubigt, ist ein Edikt Johannes

des XXII. vom 30. Juli 1330, das bestimmt, Machaut, mutmaßlich Sohn einer nichtadeligen, aber durchaus wohlhabenden Familie, die Domschule zu Reims besucht hatte, solle Kanonikus der Kathedrale von Verdun werden. Um 1322 oder 23 scheint er, bestens ausgebildet im Lesen und Schreiben des Lateinischen und Französischen, in den Dienst des Herzogs Jehan de Luxembourg (Johann von Böhmen, späterer König von Böhmen, Markgraf von Mähren, Graf von Luxemburg und Titularkönig von Polen) getreten zu sein, den er als Sekretär auf seinen vielen Reisen durch Böhmen, Mähren und Schlesien sowie auf zahlreichen Kriegszügen begleitete. Johann verschaffte ihm eine Domherrenpfründe im Domkapitel von Reims, die Machaut 1337 besetzte. Hier ist er zunächst vereinzelt bezeugt, hielt sich ab etwa 1340 überwiegend auf, wenngleich er auch weiterhin viel auf Reisen war, was sein Fehlen bei einigen Feierlichkeiten in Reims bewirkte. Während dieser Jahre muss er auch in Paris gewesen zu sein, wo er mit der Ars Nova Philippe de Vitrys in Kontakt kam.


Nach 1346 trat Machaut in die Dienste von Jutta von Luxemburg (seit 1332 Bonne de Luxembourg), der Tochter Johanns und Schwiegertochter Philipps VI. Als Jutta drei Jahre später an der Pest starb, war Machaut als Dichter bereits renommiert genug, um neben seiner Domherrenpfründe keine feste Stellung mehr annehmen zu müssen. Er schloss sich verschiedenen fürstlichen Mäzenen an, darunter dem französischen Kronprinzen Karl (später Karl V.) oder dessen kunst­liebendem jüngeren Bruder, dem Herzog Johann von Berry. Im Gegensatz zu Philippe de Vitry, dem großen Neuerer des Zeitalters, von dem kaum mehr als ein Dutzend Kompositionen überliefert sind, ist Machauts Schaffen in mehr als 140 Werken dokumentiert, unter ihnen die berühmte »Messe de Nostre Dame«. Machaut starb am 13. April 1377 in Reims.


Guillaume de Machaut: «Ma fin est mon commencement«

Handschrift A Paris, BNF f. fr. 1584, fols. 479v-480r



Das Rondeau

»Ma fin est mon commencement«, ein dreistimmiges Rondeau, ist in mehreren Handschriften – teilweise fragmentarisch – überliefert. Ich betrachte die Handschrift A (Paris, BNF f. fr. 1584, fols. 479v-480r), die wohl nach 1350, aber vor 1370, also noch zu Guillaume de Machauts Lebzeiten, entstanden ist, als Hauptquelle. Das Stück ist in schwarzer Mensural­notation notiert. Die Stimmen stehen im tempus imperfectum cum prolatione minore – in der Übertragung ergibt sich

daraus ein 2/2-Takt.


Bei dem dreistimmigen Rondeau handelt es sich um ein musikalisches Palindrom. Nur zwei Stimmen sind notiert:


Der Tenor bildet die Hauptstimme. Als einzige Stimme ist er textiert: auf dem Kopf und rückläufig (s.roten Pfeil). Damit ist ein Hinweis auf die Palindromstruktur des Stücks gegeben. Die Majuskel M («Ma …») fehlt.

Das Triplum, die Oberstimme, ist als Krebs dieser Hauptstimme auszuführen (»vraiement«).


Der Contratenor (Beginn s. Kasten) ist lediglich zur Hälfte – also bis zu jener Stelle, an der der Halbschluss erreicht wird – notiert, denn sein zweiter Teil ist der Krebs des ersten, d. h. er ist selbst ein perfektes Palindrom. Die Initiale zur Stimmbezeichnung »Contratenor« befindet sich am Beginn der letzten Zeile. Offenbar war die Aufteilung der Liniensysteme ursprünglich anders geplant.


Das Stück beginnt und endet auf einem Oktav/Einklang. In seiner Mitte (Halbschluss, Oktav/Einklang auf d) erfolgt ein Stimmtausch, nach dem die beiden Stimmen Triplum und Tenor jeweils rückläufig sind. Das ungewöhnliche Stück ist eines der ersten, wenn nicht das erste der musikgeschichtlichen Überlieferung, das auf diese Weise konstruiert ist. Krebsgängigkeit von Stimmen ist allerdings auch in anderen Stücken der Zeit zu beobachten: in einem anonym überlieferten Rondeau »Il vient bien sans appeler» (Kodex Reina, 1400-1430) sowie in dem Zirkelkanon »Tout par compas« von Baude Cordier (vmtl. Baude Fresnel), einem wie Machaut aus Reims stammenden Harfenisten und Komponisten, aus dem Codex Chantilly (1350-1400).


»Ma fin est mon commencement« hat zwei Spiegelachsen (wenngleich es sich nicht um einen Spiegelkanon handelt):

• Die erste Achse verläuft zwischen Tenor und rückläufigem Triplum: Der Anfang des Stücks ist, wie der Text sagt, zugleich sein Ende | sein Ende ist zugleich sein Anfang, sowie

• Die zweite Achse verläuft zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Stücks, wo der Halbschluss auf d erreicht wird und die Oberstimmen rückläufig vertauscht werden, der Contratenor in sich rückläufig ist.


Der Text

Der Text des Rondeaus ist eine Gebrauchsanweisung, die den Musikern sagt, wie das Stück zu realisieren ist. Er lautet:


A Ma fin est mon commencement Mein Ende ist mein Anfang

B Et mon commencement ma fin. Und mein Anfang mein Ende.


a Est teneure vraiement Der Tenor ist wirklich

A Ma fin est mon commencement. Mein Ende ist mein Anfang

a Mes tiers chans trois fois seulement Mein dritter Teil/Gesang nur dreimal

b Se retrograde et einsi fin. Es ist rückläufig und damit endet (das Stück).


A Ma fin est mon commencement Mein Ende ist mein Anfang

B Et mon commencement ma fin. Und mein Anfang mein Ende.


Die Struktur des Rondeaus macht es natürlich unendlich wiederholbar. Mehrfach wurde daher in der Literatur zum Stück eine Analogie zur der sich selbst in den Schwanz beißendnen Schlange (Orobouros), die zur Entstehungszeit des Rondeaus als Symbol der Zeit gesehen wurde, behauptet. Da der Text explizit ein Ende verlangt (»et ainsi fin«), erscheint mir eine solche Analogie nicht gegeben.



Hören Sie die Aufnahme des Orlando Consort (Archiv Produktion). Alle Stimmen sind vokal ausgeführt, obgleich wir nicht sicher sagen können, ob das korrekt ist. Schließlich ist nur eine Stimme textiert.











Der Text »Ma fin est mon commencement« / »Mein Anfang ist mein Ende« erinnert stark an den Ausspruch aus der Offenbarung des Johannes 22.13 »Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.« (Die Aussage findet sich auch schon in Off. 1.8 »Ich bin das Alpha und das Omega, spricht der Herr und Gott, der ist und der war und der kommt, der Allherrscher.« sowie in Off. 21.6 »Und er sprach zu mir (Johannes): ›Es ist geschehen. Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende.« Ebenfalls im zweiten Teil des Buches Jesaja – Jes. 44,6, ähnlich: Jes. 41,4 und 48,12 – das wiederholt vorkommende Gottesattribut »Erster und Letzter«)1


Das magische Quadrat

Die Charakterisierung des Herrn in der Offenbarung des Johannes hat ihren Niederschlag gefunden in einer symbolischen Darstellung des »Pater Noster«, die als Erkennungszeichen der frühen Christen, aber auch als magisches Zeichen, das Schutz bot, über Jahrhunderte lang in Gebrauch war.




Dieses PATER NOSTER wiederum findet sich in einem Anagramm, das vermutlich von Lateinisch sprechenden Juden, die in Italien lebten, unmittelbar vor Beginn der christlichen Ära geschaffen wurde.

Die ältesten in Europa zwischen Pompeji und dem südenglischen Cirensester aufgefundenen Beispiele des magischen Quadrats stammen überwiegend aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten und sind spiegelbildlich überliefert, beginnen also mit dem Wort ROTAS und nicht wie seit dem 8. Jahrhundert mit dem Wort SATOR. Auch das SATOR-Quadrat fand vielfach Verwendung bei der Abwehr von Gefahren.


Folgende Interpretation des magischen Quadrats ist möglich:


SATOR (den Sämann) als den Schöpfer (entsprechend der Hymne »Salutis humanae sator« (Schöpfer der Menschen Heil) Hymne zur 2. Vesper an Christi Himmelfahrt)


OPERA als die Werke (dieses Schöpfers)


ROTAS als die Räder des kosmischen Streitwagens, die ein Sonnensymbol sind, wie es die Wagen von Mithras, Phaeton oder Apollo waren.


TENET als »halten«, d. h. als beherrschen. Das Wort gehört zur Zaubersprache und bedeutet »bannen«.


Lediglich AREPO scheint nicht auflösbar. Ich möchte mich hier nicht an den zahlreichen Spekulationen zur Wortbedeutung beteiligen. Es könnte sich lediglich um ein zwangsläufig als Spiegelung von OPERA entstandenes Element handeln.2


Ich übertrage das SATOR-Quadrat auf die Komposition:



Der Drache

Am beginn der Contratenor-Zeile steht eine Initiale des C, dem ein drachenähnliches Wesen eingezeichnet ist.

Das ist nicht der Drache, der sich in den Schwanz beißt und so zum Sinnbild für die Zeit wird. Auch der Dämon bzw.

Teufel scheint hier nicht gemeint zu sein. Es ist vielmehr ein harmlos erscheinendes Wesen, das eher mit den Begriffen von Wachsamkeit, Logik, Dialektik und Klugheit assoziiert werden kann, Begriffe, die im Mittelalter ebenfalls mit dem Bild des Drachen assoziiert werden. Die Initiale scheint also darauf zu verweisen, dass es sich hier um ein musikalisches Rätsel handelt, das durch Klugheit bzw. Logik gelöst werden kann.


Die Zahlenstruktur

Die Anzahl der notierten Zeichen (Einzeltöne und Ligaturen) zeigt sich als perfekt organisiert



Interessant ist, dass durch eine Korrektur der Teilzahlen auch die horizontalen Summenzahlen sich als perfekt organisiert zeigen:


Alle Zahlen dieses Systems haben die 9 (3x3) zur Quersumme: 36, 54, 72, 126, 162, 243, 324 und 423.


Warum ist dieses System nicht perfekt? Eine mögliche Antwort ist, dass das Stück von Menschenhand geschaffen wurde und daher die Perfektion, die allein dem Höchsten zusteht, meidet. Vielleicht hängt dies auch zusammen mit der Tatsache, dass die ursprüngliche Summenzahl 125 der Zahlenwert von τo Άλφα + το Ω ist (Kleine Zählung). Sämtliche alten Textzeugnisse dokumentieren nämlich die Schreibweise von Άλφα als Wort und Ω als Zeichen. Das Wort Ωμέγα ist tatsächlich erst viel später entstanden und wurde zur Zeit des Neuen Testaments nur als Zeichen Ω geschrieben.3 Lassen wir diese Begründung gelten, dann wäre die ursprüngliche perfekte Ordnung möglicherweise verändert worden, um A und Ω ein weiteres Mal in der zahlhaften Ordnung unterzubringen.


Zusammengefasst lautet der Befund für die Anzahlen der Zeichen:

Alle Teil- und Summenzahlen sind Vielfache von 3.

Die Gesamtzahl der Zeichen erscheint erneut in der Ziffernfolge der Multipliktionen der Einzelstimmen. Triplum bzw. Tenor verhalten sich dabei spiegelbildlich (423) zur Gesamtzahl 324; der Contratenor zeigt eine Permutation dieser Ziffernfolge.

Alle Summenzahlen des Stücks haben sämtlich die Quersumme 9 = 3x3.

Die Gesamtzahl aller Zeichen des Stücks beträgt 108 x 3.

Die Konstruktion aller Stimmen und Großabschnitte des Rondeaus basiert auf Vielfachen von 3 und 2. Die Drei steht für das Göttliche (Gott Vater), die Zwei für das Menschliche (Gottes Sohn, der Fleisch wurde).


Wovon die Zahlen sprechen

Die Drei und die aus ihr abgeleitete Neun sind bedeutende Symbolzahlen von Alters her: »Die Trias oder Trinitas, die Zahl der Vollkommenheit und der Vollendung, der Schlüssel zum Weltganzen, ist mithin das passende Symbol der Gottheit, von der Anfang, Mitte und Ende ausgehen.«4 Noch Nikolaus von Kues (1401-1464) nennt die potenzierte Drei in seiner Schrift Docta Ignorantia eine »mysteria pluribus occulta«. »Ethisch-symbolisch ist die Neun, worauf schon ihr Ursprung aus der dreimal genommenen Vollendungszahl Drei hinweist, die Zahl der höchsten für den Menschen erreichbaren Vollendung. Sie weist indessen auch auf die Vollendung einer Schicksalsentwicklung hin; und diese Symbolik ist aus der Bibel mehrfach ersichtlich.«5


108 entspricht in griechischer Zahlenordnung dem Wort des Herrn (Off.1,8 und Off. 21) und dem Christuswort »Ich bin das Alpha und das Omega – «Είμαι τo Άλφα και το Ω« (Off. 22,13). In der (neben der Kleinen Zählung gebräuchlichen) milesischen Zählung entspricht A = 1, Ω = 800, A und Ω zusammen also 801. Ihr Spiegel lautet 108. Aus pragmatischen Gründen kann die Anzahl der Zeichen/die Anzahl der real erklingenden Töne des Contratenors nicht allzu groß werden. Daher wählt Machaut die Spiegelzahl zu 801. Da Spiegelzahlen grundsätzlich identisch, d. h. als der Ausgangszahl gleichwertig anzusehen sind, kann sich Machaut für die 108, die Spiegelzahl zu 801, entscheiden. Diese Entscheidung ist also begründbar aus den musikalischen Erfordernissen.6


Deie Gesamtzahl der Zeichen ist 324 | 423. 423 ist 9x47. 47 = Aἰών, ein Begriff der aus spätantiken Philosophie ins Christentum übernommen wurde, bezeichnet ursprünglich die Weltzeit oder Ewigkeit, später dann die Emanation der obersten Gottheit. Der griechische Begriff Aἰών bezeichnet schließlich die Spanne des individuellen Lebens bzw. die Lebenszeit.


Schließlich haben wir zu erwähnen, dass das gesamte Stück 40 Mensureinheiten (Takte) umfasst. Dieser Zahlenwert steht in der milesischen Zählung für den Buchstaben M. M ist der erste Buchstabe des Textes, zugleich auch der erste Buchstabe des Komponistennamens. Sowohl im Alten wie im Neuen Testament taucht die Zahl häufig auf. Sie steht immer im Zusammenhang mit einer Dauer. 40 Tage dauert die Sintflut (Mose 7,17); 40 Tage lang sind die Israeliten in der Wüste (z.B. 4. Mose 40, 33ff. oder Apostel 7,42); 40 Tage wartet Moses auf dem Sinai auf den Empfang des Gesetzes (2. Mose 24,8). 40 Nächte verbringt Jesus in der Wüste (Matth. 4,2); 40 Tage weilt der auferstandene Jesus noch bei seinen Jüngern (Apostel 1,3); 40 Stunden dauert die Grabesruhe Jesu 3x40 Jahre dauert idealerweise ein Menschenleben u.v.m. Für Augustinus weist die Zahl 40 auf die »integritas saeculorum«, die Gesamtheit aller Zeiten, hin. Die Zahl 40, die Zahl der Vorbereitung und des Wartens, ist die Zahl der erfüllten Zeit.


Darüber hinaus beobachten wir:

Die Anzahl der Zeichen im notierten Contratenor (also der Hälfte des gesamten Contratenors) beträgt 37, korrigiert 37-1 = 36. 36 ist die Gematrie des Namens Jehan. Jean (im Mittelalter: Jehan, »Gott ist gnädig«) de Luxembourg war der Dienstherr Machauts. Der Name seiner Herrin, in deren Dienst er nach Jehans Tod eintrat, ist Bonne (de Luxembourg). Die Gematrie von Bonne ist 47.Die Gesamtzahl des Tenors (unkorrigiert) beträgt 74. 74 ist Spiegel der 47.



Wie können wir Machauts Stück verstehen?

Machauts musikalisches Rätsel erweist sich als dreifach beziehungsreich:

• Auf der obersten Ebene des Verstehens finden wir eine Selbstbezüglichkeit: die Gebrauchsanweisung zur Realisation des Rondeaus.


• Auf der zweiten Ebene formuliert Machaut musikalisch ein Glaubens-Bekenntnis: Mein physisches Ende, so sagt er, ist zugleich der Beginn meines wirklichen Leben. Dieses Verhaftet-Sein im Glauben zeigt sich schließlich in der mehrfachen Übernahme von Symbolzahlen aus der Hl. Schrift, die die gesamte Struktur des Rondeaus durchdringen.


• Auf einer dritten, tieferen Ebene, die zu entschlüsseln ist, bezieht sich Machaut mit seinem Werk auf die Aussagen in der Offenbarung des Johannes: »Ich bin Alpha und Omega«. Diese Aussage verankert er in den Zeichenzahlen und der Grundstruktur seines Rondeaus, die über der »göttlichen« Drei sowie der »menschlichen« Zwei errichtet ist. Alle Zahlen des Stücks zeigen die Quersumme 9 , die potenzierte heilige Drei. Darin ist nicht nur eine potenzierte Dreifaltigkeit zu sehen. Platon (Gesetze, Kap.4,716) ordnet die Drei als die vollkommenste Zahl der Gottheit zu, von der Anfang, Mitte und Ende ausgehe. In Off.1.4 wird Jehova gedeutet als »der da ist, der da war und der da sein wird«.


»Ma fin est mon commencement« ist ein Spiegel im Spiegel im Spiegel; nach und nach erblicken wir die drei Ebenen dieses Vexierspiels: die konstruktive, die selbst-reflexive und und schließlich jene, die ein (unvollkommener) Widerschein des Ewigen ist. Dabei ist die Wirkweise des Spiegels diese: Nur, was real vorhanden ist, kann gespiegelt werden. Im Umkehrschluss heißt dies: Was gespiegelt wird, ist real. Der Apostel Paulus sagt im 1. Brief an die Korinther: »Jetzt sehen wir [Gott] nur wie mittels eines Spiegels und in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht.» (Kor. 1,13,12) Der Spiegel ist damit nicht nur Metapher für den unvollkommenen Anblick Gottes, sondern auch Symbol der Realität der vorhandenen und der zukünftigen Welt. Er ist darüber hinaus ein Hilfsmittel bei der katoptrischen Magie, die alles, was im Spiegel gesehen wird – und das ist mehr, als der Spiegel zeigt – für real erklärt.


Bezieht Machaut sich im Contratenor seines Rondeaus (TENET = »beherrschen«) tatsächlich auch auf seine »Herren« Jehan und Bonne de Luxembourg? Wenn dem so ist, dann wäre das Rondeau genau an der Nahtstelle von Machauts »Neubeginn«, der auf den 26. August 1346, den Todestag Jehans, fällt, geschrieben worden, der Tag, an dem er eine neue Herrschaft, Bonne de Luxembourg, bekam. Zu guter Letzt: Könnte es sein, dass Machaut uns dies alles in seinem 40 Lebensjahr sagt? Er müsste dann 1306 geboren sein ... Das Stück hätte damit eine weitere Ebene, die ein biografische Informationen sowie den Anlass (und möglicherweise das Datum) seiner Komposition mitteilt.


Machauts Rondeau »Ma fin est mon commencement« ist als ein »Spiegel-Rätsel« konstruiert. Es lässt den Verstehenden in eine Welt schauen, die im Verborgenen liegt, für Machaut und seine Zeitgenossen gleichwohl Realität besitzt.




[1] Die Vermutung, dass Machauts »Ma fin est mon commencement« in irgendeiner Weise mit dem SATOR-Quadrat und darüber hinaus mit dem Kryptogramm der Hymne »Ut queant laxis« und dem Alpha et Omega der Offenbarung des Johannes verbunden sein könnte, haben die französischen Musikologen Chailley und Viret geäußert: »Cette conception d’une transcendance du temps dévoile peut-etre le sens second du rondeau de Guillaume de Machault (sic) (XIVe siècle): ›Ma fin est mon commencement, et mon commencement ma fin« allusion possible au l’Apocalypse et non au seul procédé du canon à l’écrevisse régissant la structure musicale du morceau (ce procédé aurait alors un sens symbolique par delà son aspect musical d’artifice contrapuntique).« Jacques Chailley, Jacques Viret: »Le symbolisme de la gamme«, La Revue Musicale 1988, S. 117.


[2] Chailley und Viret gehen einen Schritt weiter. Sie interpretieren die drei Wörter SATOR, TENET und OPERA als Ausdruck der Dreieinigkeit und als Sinnbild des »Kosmischen Rades«: SATOR als »der Vater«, das ruhende Zentrum des Rades; ROTAS (das spiegelbildliche Gegenstück zu SATOR), als »der Sohn«, der Umfang des Rades; TENET als »der Heilige Geist«, die Speichen, die beide zusammenhalten als Verbindung von Nabe und Umfang.


»Par ailleurs nous avons deux fois trois mots, et le nombre Trois tenvoie nécessairement à la Trinité. Dans cette optique, il faut interpréter SATOR comme »le père«, ROTAS comme «le fils« (le père se dédoublant en sujet et objet, ce qui implique le monde créé, oeuvre du verbe, TENET comme »le Sain-Esprit« (lien d'unité entre le Père et le Fils), en accord avec les exégèses théologiqies. Par rapport au symbole de la roue cosmique (rota) le`

Père (SATOR) est le centre immobile, le Fils (ROTAS) la corconférence, le Saint-Esprit (TENET) les rayons reliant le centre et la circonférence.« Chailley und Viret, a.a.O., S. 103.


[3] Gerhard Kittel: Art. ΑΩ, in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 1, Stuttgart 1933, S. 1-3, hier: S. 1, Anm. 1.


[4] Peter Friesenhahn: Hellenistische Wortzahlenmystik im Neuen Testament, Leipzig und Berlin 1935, S. 15.


[5] Ebd.


[6] Die real erklingenden Töne sind geordnet in 60, 77 | 77, 60. Die Summe aus C, T und Ct beträgt jeweils 191, die Gesamtsumme der erklingenden Töne beträgt 382; die Summe der real erklingenden Töne des Contratenors ist 2x54, also noch einmal 108.


© ROLF W. STOLL 2022




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