MUSIK ALS DOKUMENT
«Eine besonders entwickelte Form des Strukturverstehens» nannte der Kunsthistoriker Erwin Panofsky die «ikonologische Methode», zu der er zwischen 1930 und 1955 mit seinem «Drei-Stufen-Interpretationsschema» für die deutende Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst den entscheidenden Impuls setzte. Er beförderte damit für sein Fach maßgeblich den durch die Soziologen Max Weber, Georg Simmel und v. a. Karl Mannheim vorangetriebenen Paradigmendiskurs, der nicht nur innerhalb der Sozialforschung, sondern in der Folge von einer Reihe anderer Wissenschaftszweige – beispielsweise der Ethnomethodologie, der Geschichts- und Kulturwissenschaft, der Bildungsforschung sowie der Kommunikationswissenschaft – fruchtbar werden konnte. Panofskys wissenschaftliche Grundlegung einer Methode zur Erforschung und Deutung bildkünstlerischer Erzeugnisse im Sinn einer kunstgeschichtliche Hermeneutik hat sich seither – jenseits vorgetragener Kritiken – als führende Methode des Fachs Kunstgeschichte erwiesen. In den Forschungsbereich der Musikwissenschaft fand die ikonologische Methode bislang kaum einmal Eingang. Allen, denen Musik mehr ist als «tönend bewegte Form», nämlich kulturelles, soziales und historisches Zeugnis und Dokument von Weltsicht, kann sie allerdings von unschätzbarem Nutzen sein.
Die Darstellung des April in den Fresken des Palazzo Schifanoia, Ferrara
Urspünge der ikonologischen Methode
Die «ikonologische Methode» wurde erstmals von Aby Warburg in seiner Dissertation (Straßburg 1892) über zwei Gemälde Sandro Botticellis angewandt. Den Begriff «ikonologische Analyse» benutzte er dann zum ersten Mal 1912 in seinem Vortrag über die Monatsbilder im Palazzo Schifanoia in Ferrara, in dem er deren komplexes astrolo-gisches Bildprogramm entschlüsselte. Die «Ikonologie» wurde in der Folge zur zentralen Methode der Warburg-Schule, zu der Warburgs Schüler und Mitarbeiter Gertrud Bing, Fritz Saxl, Edgar Wind und Rudolf Wittkower gehörten. Ziel der ikonologischen Methode war es, über die Formanalyse und die ikonografische Beschreibung zu einer Deutung der dem Kunstwerk inhärenten symbolischen Formen zu gelangen.
Erwin Panofsky, der die Ikonologie in den Jahren 1930 bis 1955 zu einem Drei-Stufen-Modell der Interpretation weiterentwickelte, nahm den Impuls auf und stellte seinen Ansatz von Beginn an in den Kontext der von Karl Mannheim in den 1920er Jahren ausgehend von einer philosophischen Analyse der Erkenntnistheorie entwickelten Wissenssoziologie und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Grundannahme Mannheims war, dass menschliches Denken und Erkennen nicht in rein theoretischem Rahmen ablaufen, sondern von gesellschaftlichen und geschichtlichen Lebenszusammenhängen geprägt werden.
Mannheim hatte in seinem 1921/22 erschienenen «Beitrag zur Theorie der Weltanschauungs-interpretation» einen methodischen Zugang zum Verstehen von Weltanschauungen und zur Indexikalität fremder Erfahrungsräume erarbeitet. [1] Weltanschauungen sind dabei nicht mit Weltbildern oder mit etwas theoretisch Durchdachtem gleichzusetzen, sie entstehen vielmehr in Kommunikations- und Handlungspraxis von Menschen und gehören zu dem Bereich, den Mannheim mit dem Begriff des «atheoretischen Wissens» fasste. [2]
Mannheim benennt drei «Sinnschichten», die beim immanenten oder genetischen Erfassen eines Kulturgebildes zu unterscheiden sind:
– einen objektiven oder immanenten Sinn, der unvermittelt gegeben ist (beispielsweise in Zeichen, Gesten und Gemälden)
– einen intendierten Ausdruckssinn, der vermittelt gegeben wird (beispielsweise als Ausdruck von oder als Reaktion auf etwas)
– und schließlich – dies ist in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung – einen von ihm so genannten «Dokument-Sinn» – als Dokument für eine Handlungspraxis. Bei dieser dritten Ebene der Interpretation oder beim Erfassen des «Dokument-Sinns» gehe es nicht mehr um die Analyse der objektiven Geste und auch nicht um die Deutung der dahinter liegenden Intention, sondern um das, was über die Tat, auch wenn es unbeabsichtigt war, «sich für mich [über den Handelnden] dokumentiert». [3]
Diese drei Sinnschichten – so Mannheim – eignen jedem kulturellen Gebilde. Allein die mehrdimensionale Analyse und Interpretation kann sie zum Vorschein bringen. Ein Verharren auf der obersten Ebene des objektiven oder immanenten Sinns, wird niemals zu einem umfassenden Verständnis eines kulturellen Objekts führen können: «Werfen wir einen flüchtigen Blick auf die Eigenart des Naturgegenstandes, so merken wir sofort, dass es für ihn und für die ihm zugeordnete modern-naturwissenschaftliche Betrachtung charakteristisch ist, dass man hier stets einen Gegenstand nur als ein ‹Es selbst› nimmt und ihn zureichend erkennen kann, ohne ihn in den erwähnten anderen Richtungen zu ergänzen. Demgegenüber wird ein Kulturgebilde in seinem eigenen Dinge nicht verstanden, wenn wir nur auf jene ‹Sinnschicht› eingehen, die uns rein als ‹sie selbst›, als objektiver Sinn vorschwebt, wir müssen das Gebilde außerdem als Ausdruck und Dokument nehmen können, sofern wir es überhaupt nach allen ihm vorgezeichneten Richtungen hin vollständig verstehen wollen». [4]
Dem «Dokumentsinn» bei Mannheim entspricht der Begriff «eigentliche Bedeutung» bei dem Philosophen Ernst Cassirer. Im Anschluss an dessen 1923-1929 erschienene Philosophie der symbolischen Formen fasste Panofsky «eigentliche Bedeutung» und «Gehalt» als «symbolische Werte» auf.
Cassirer hatte geschrieben: «[…] ) nur der Mensch [ist] in der Lage, der Welt Bedeutung zu geben: das Symbol wird zum Inbegriff der Gestalt des Wirklichen. Der Mensch lebt in einem symbolischen Universum, das er selbst geschaffen hat». «Symbol» bezeichnet darin «jede Form menschlichen Denkens, die im Sinnlichen einen konkreten Ausdruck erhält – Worte, Bilder, Töne, Tanz». [5] Symbole – so Cassirer – «sind Offenbarungen und Manifestationen geistiger Grundfunktionen im Material des Sinnlichen selbst […] Durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir ‹Wirklichkeit› nennen: denn die höchste objektive Wahrheit, die sich dem Geist erschließt, ist zuletzt die Form seines eigenen Tuns». [6]
In seinem 1990 erschienenen Versuch über den Menschen findet er schließlich zu einer eindrücklichen Formulierung: «Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als ‹Symbolnetz› oder Symbolsystem bezeichnen können. […]
Der Mensch entkommt dieser seiner Erfindung nicht. Er lebt nicht mehr in einem bloß physi-kalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. […]
Der Begriff der Vernunft ist höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren». [7|
Bei der ikonologischen Interpretation geht es darum, die «eigentliche Bedeutung oder [den] Gehalt» eines Werks (eines Bildes) zu ermitteln. Diesem Ziel dienen die Untersuchung der geschichtlichen Situation, in denen das Werk entstand, etwa die Beachtung der Klassenverhält-nisse sowie der religiösen und philosophischen Überzeugungen der Zeit. Dadurch wird das Werk als «Dokument» aufgefasst, das Bild zu «einem Symptom von etwas anderem, das sich in einer unabsehbaren Vielfalt anderer Symptome artiku-liert». [8]
Erwin Panofsky versteht die Ikonografie als eine «Beschreibung und Klassifizierung von Bildern». Die Ikonologie hingegen mache es sich zum Gegenstand, die symbolische Werte des Abgebildeten zu analysieren. Dabei sei es möglich, dass die Interpretation an diesem Punkt von dem abweiche, was der Künstler ursprünglich durch das Bild intentional vermitteln wollte.
Er unterscheidet folgende Stufen der ikonografisch-ikonologischen Analyse: [9]
prä-ikonografische Analyse: Was findet sich dargestellt?
Die vorikonografische Beschreibung («primäres oder natürliches Sujet») identifiziert zunächst Formen und Motive des Bildes. Sie werden erkannt und zueinander in Beziehung gesetzt. Panofsky nennt diese «Ereignisse», die auf Grundlage der praktischen Erfahrung interpretiert werden.
ikonografische Analyse: Auf welche Weise ist es dargestellt ?
In diesem zweiten Schritt, der ikonografischen Analyse («sekundäres oder konventionelles Sujet») werden die Bedeutungen der erkannten Formen und Motive herausgearbeitet und zu Themen und Konzepten verdichtet. Die Kombination der Motive weist auf Anekdoten und Allegorien hin; durch ihre Verknüpfung entstehen Bilder. In dieser Phase der Analyse ist auf eine unbedingt «korrekte Identifizierung der Motive» zu achten.
ikonologische Interpretation: Was ist die Bedeutung des Dargestellten?
Der ikonologischen Interpretation geht es um die «eigentliche Bedeutung oder [den] Gehalt» des Bildes (intrinsische Bedeutung, «symbolischer Wert»). Das Werk wird jetzt nicht mehr nur als Werk betrachtet, sondern es nimmt den Charakter eines «Dokuments» an.
Entsprechend seinem Drei-Stufen-Modell der Analyse unterscheidet Panofsky
– einen Phänomensinn: objektive Form (faktisch: Sachsinn; expressiv: Ausdruckssinn)
– einen Bedeutungssinn: Inhalt: Bild, Geschichte, Allegorie
– einen Dokumentsinn: Kunstwerk als symbolischer Ausdruck des Lebensgefühls, der Weltanschauung und geistesgeschichtlichen Situation.
Johann Konrad Eberlein fast zusammen: «Die ikonographisch-ikonologische Methode ist also die Suche nach dem einstigen Sinn eines Kunstwerks mit Hilfe aller erreichbaren bildlichen oder schriftlichen Quellen, die sich zu ihm in eine erhellende Beziehung setzen lassen. Das Ziel der ‹geschichtlichen Deutung› [Herbert von Einem] ist, unser Verständnis vom [jeweils] zeitgenössischen ausgehen zu lassen.» [10]
«Wie bei Mannheim besteht [Panofskys Modell] aus drei Stufen, die jedoch nur theoretisch zu scheiden sind und in der Arbeit des Interpreten einen einzigen, auf das Kunstwerk bezogenen Prozess bilden. Die Stufen stellen ein immer tieferes Eindringen dar: Von der vor-ikonographischen Beschreibung über die ikonographische Analyse zur ikonologischen Interpretation.» [11]
In neuerer Zeit fand Panofskys Modell eine Weiterung durch Roelof van Straten, der in der Ikonologie die Aufgabe sieht, «den kulturellen, sozialen und historischen Hintergrund von Themen in der bildenden Kunst aufzudecken und aus diesem Hintergrund heraus zu erklären, warum ein bestimmtes Thema von einer bestimmten Person (Künstler oder Auftraggeber) an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmte Zeit gewählt wurde und warum dieses Thema auf eine bestimmte Art und Weise dargestellt wurde». [12] Darüber hinaus strebt er an «in der ikonologischen Phase [der Untersuchung] im Idealfall nicht kunstgeschichtliche, sondern gesellschaftliche Entwicklungen, die den Künstler möglicherweise beeinflusst haben, [zu untersuchen. Einflüsse also, von denen man annehmen kann, dass der Künstler sie nicht bewusst eingesetzt hat, die aber doch in seinem Werk vorhanden sind». [13] Van Stratens Forderung könnte man damit als Erweiterung (vierte Stufe) von Panofskys ursprünglichem Drei-Stufen-Modell begreifen.
Die ikonologische Methode ist unter Kunsthistorikern, die sich vor allem den formalen und ästhetischen Aspekten von Kunst widmen wollen, nicht unangefochten. Doch lässt sich nirgendwo ein Alleinvertretungsanspruch der Ikonologen ausmachen. Ikonologie ist eine Methode unter vielen weiteren, deren Berechtigung entsprechend ihrem jeweiligen Erkenntnisinteresse von der Ikonologie nicht bestritten wird. Das Erkenntnisinteresse der Ikonologie missachtet auch nicht die Leistung des Künstlers, sie legt ihr Augenmerk lediglich auf einen anderen Aspekt und ergänzt so die formale und ästhetische Betrachtung von Kunst um den Aspekt des «Gehalts».
Die Ikonologie als Methode der Musikwissenschaft
Die Musikwissenschaft ist eine wissenschaftliche Disziplin, die für sich beansprucht, die Erforschung und Reflexion aller Aspekte der Musik und des Musizierens zu betreiben. Sie hat dazu eine Vielzahl von Methoden und Disziplinen ausgebildet: unter ihnen kultur-, natur-, sozial- und strukturwissenschaftliche Ansätze.
Ihr Fachgebiet ist dreigegliedert in:
1. Historische Musikwissenschaft (Musikgeschichte);
2. Systematische Musikwissenschaft;
3. Musikethnologie / Ethnomusikologie (vormals Vergleichende Musikwissenschaft).
Diese u. a. von Glen Haydon [14] ab 1941 vertretene Gliederung löste die von Guido Adler [15] geprägte Zweiteilung in Historische und Systematische Musikwissenschaft, zu der dieser auch die Vergleichende Musikwissenschaft/Musikethnologie zählte, ab. Daneben existieren weitere vier- und fünfgliedrige Einteilungen. Sie alle kennen die Ikonografie als Teilgebiet der historischen Musikwissenschaft, deren Ziel es ist, musikbezogene Bilddarstellungen als Quellen auszuwerten, um Erkenntnisse über Musikausübung und -anschauung, Instrumente, über Personen und soziale Zusammenhänge zu gewinnen.
Die Ikonologie geht einen entscheidenden Schritt darüber hinaus, indem sie neben den musikbezogenen bildlichen Darstellungen das musikalische Werk selbst als Quelle betrachtet und vermittels analytischer, vergleichender und Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften einbeziehender Methoden und Aussagen Deutungen vornimmt. Im Anschluss an Eberlein könnte man formulieren: «Der Ikonologe des Fachbereichs Musikwissenschaft sucht Sinnschichten hinter dem, was das musikwissenschaftliche Auge sieht und das wahrnehmende Ohr hört.» [16] Um sein Wissen fruchtbar machen zu können, benötigt er die Begabung der «synthetischen Intuition», die durch persönliche Psychologie und «Weltanschauung» geprägt ist. Häufig wird er dabei auf die Mitarbeit von KollegInnen anderer Wissenschaftsbereiche angewiesen sein.
Obgleich einzelne Musikforscher ihre Untersuchungen – ohne dies explizit zu machen – in diese Richtung ausgedehnt haben, kam es bislang nicht zur theoretischen Grundlegung einer «Ikonologie der Musik» wie sie im Anschluss an die Kunstwissenschaft jeweils fachspezifisch vorrangig von den Sozialwissenschaften, der Philosophie und anderer Wissenschaftsbereiche ausgebildet wurde.
Welches sind die Arbeitsschritte einer «Ikonologie der Musik»?
In enger Anlehnung an Erwin Panofskys Drei-Stufen-Modell könnte man folgende Arbeitsschritte unterscheiden:
prä-ikonografische Analyse:
Was zeigt der Notentext, was die ästhetische Erfahrung des Hörens? Die Formen und Motive der Musik werden erkannt und zueinander in Beziehung gesetzt.
ikonografische Analyse:
Welche Bedeutung besitzen Formen und Motive und welche Aussagen sind über ihre Beziehungen zu treffen ? Die erkannten Bedeutungen werden zu Themen und Konzepten verdichtet.
ikonologische Interpretation:
Was ist der «Gehalt» der Musik, ihr «symbolischer Wert»? Das Werk wird jetzt nicht mehr nur als formal gestaltetes ästhetisches Artefakt betrachtet, sondern wird als «Dokument» gesellschaftli-cher Verhältnisse und Überzeugungen seiner Entstehungszeit gedeutet.
Die musikwissenschaftliche Ikonologie weist gegenüber der kunstwissenschaftlichen eine Besonderheit auf: Ihr Gegenstand ist der Notentext, ein abstraktes Gebilde, das in erster Linie der Wiedergabe musikalischer Gedanken dient und diese Gedanken in einer Art Code festhält. Dieser Code jedoch enthält nicht alle Bestimmungen der erklingenden Musik. Der Interpret, dem ein reiches Wissen an musikalischen Konventionen und spezifischen Kenntnissen sowie ein geschultes musikalisches Formbewusstsein eignet, fügt dem Aufgezeichneten jene Bestandteile hinzu, die die Wahrnehmung eines Musikwerks entscheidend prägen. Daher sind die Konventionen der Gestaltung des Notentextes in die Betrachtung einzubeziehen.
Die eigentliche ikonologische Betrachtung setzt zunächst eine Analyse beider Aspekte zwingend voraus. Die Entschlüsselung des primären Codes, der im Notentext übermittelten musikalischen Absicht, verlangt sodann nach einer «Visualisierung» des klingend Gedachten. Sie wird die formalen Prozesse, die «Pathosformeln» (Madrigalismen, Figuren, Wortausdeutungen), die Zahlen (Proportionen, Gematrie) und weitere Quellen (Formenlehren, historische Berichte, bildkünst-lerische Erzeugnisse, Bibeltext, Kabbala, Erkenntnisse der Sozial- und Naturwissenschaften etc.) in den Blick nehmen. Eine ikonologische Deutung eines musikalischen Werks kann dann vorgenommen werden, wenn die Indizienkette dieser Untersuchung teilweise oder ganz geschlossen werden und daraus eine «Erzählung» entstehen kann.
Die ikonologische Methode wurde bislang an folgenden musikbezogenen Gegenständen und musikalischen Werken erprobt:
– einer Illustration im Tropar von Nevers (Bildquelle),
– Guillaume de Machauts Rondeau «Ma fin est mon commencement …»
– Guillaume Dufays Florentiner Motetten «Nuper rosarum flores», «Mirandas parit» und
«Salve flos Tuscae gentis»,
– Guillaume Dufays Chanson «Mon chier amy»,
– Thomas Weelkes Madrigal «Thule, the Period of Cosmography/The Andalusian Merchant»,
– Dem Frontispiz von Thomas Morleys «A plaine and easy introduction to practicall musicke»
(Bildquelle),
Sie wurden im Sinne der «Ikonologie der Musik» nicht nur als individuelle Schöpfungen einer formalen und ästhetischen Betrachtung unterzogen, sondern auch unter Hinzuziehung zeitgenössischer schriftlicher
Quellen und Abbildungstraditionen als geschichtlich-gesellschaftliche Dokumente begriffen und gedeutet:
– als Dokument religiöser Anschauungen (im Zusammenhang mit liturgischen Ereignissen),
– als Dokument magischer Praktiken,
– als Dokument der Überschreitung gängiger Weltanschauungen und daraus abgeleiteter
Verhaltensregeln,
– als Dokument/Abbild eines wissenschaftlichen Weltbildes,
– als Dokument mit mehrschichtigem Bedeutungsgehalt,
– als Dokument einer hermetischen Absicht.
Die angewandten Methoden (sämtliche Arbeiten – mit Ausnahme der Untersuchung der Florentiner Motetten Dufays – finden sich auf sinustext.com/Ikonologie) sind – neben der herkömmlichen formalen und ästhetischen Analyse sowie ihre wechselseitige Beziehung zueinander und zu den Weltanschauungen, denen sie entsprangen:
– die numerologische Analyse (biblischer Kontext der Zahlen) im Bereich der Makro- und Mikrostrukturen einer Komposition:
Guillaume Dufays Motette «Nuper rosarum flores» zur Weihe der Kuppel des Florentiner Doms (1436) erwies sich in der ikonologischen Auseinandersetzung als Dokument eines christlich-religiösen Weltbilds der Zeit. Der dem Werk zugrunde liegende Zahlenplan verwirklicht ein Schönheitsideal, das im Glauben an die Wohlgeordnetheit der Welt begründet liegt, und nimmt durch Zahlen vermittelt in vielfältiger Weise Bezug auf das christliche Denkgebäude und den realen Anlass des Werks.
– die Analyse der musikalischen «Pathosformeln» (Aby Warburg):
Thomas Weelkes’ Madrigal zu sechs Stimmen «Thule, the Period of Cosmography/The Andalusian Merchant» (1600) wurde in den Kontext schriftlicher Quellen der Zeit und bildlicher Traditionen gestellt. Die durch zahlreiche «Pathosformeln» (Madrigalismen, Wortausdeutungen) geprägte Werkgestalt lässt ein Dokument einer historischen und sozialen Übergangsperiode sichtbar werden, das von dem zeitgenössischen Konzept der «Melancholia» durchdrungen ist.
– die Aufdeckung der numerologischen Verschlüsselung von Namen durch Tonanzahlen:
Die Analyse von Guillaume Dufays dreistimmiger Chanson «Mon chier amy» (1427) offenbarte eine zahlhaften Ordnung des Werks, in der der allgemeine Anlass und die Beteiligten einer spezifischen historischen Situation aufgehoben sind. Das Werk konnte durch den ikonologischen Zugriff zeitlich und personell zugeordnet werden.
– der Rekurs auf Abbildungstraditionen und visuelle Konzeptionalisierungen:
Das Frontispiz zu Thomas Morleys Lehrwerk «A plaine and easy introduction to practicall musicke» (1597) erweist sich als Dokument der Parteinahme für eine wissenschaftliche Weltsicht, das auf standardisierte Bildtraditionen wie auch auf ein hermetisches Inventar des Wissens der Zeit zurückgreift.
Die Darstellung zweier Spielleute im Tropar von Nevers (1059/60) zeigt ein von visuellen Traditionen des christlichen Mittelalters gespeistes Abbild einer spezifischen Auffassung der Musik, die angesichts des christlichen Heilsgeschehens die einschränkende Festlegung der kirchlichen Autoritäten auf den Choral überwindet.
Guillaume de Machauts Rondeau «Ma fin est mon commencement …» schließlich zeigt sich als ein «Spiegel-Rätsel», das in komplexer Weise biografische, religiöse und kulturgeschichtliche Bezüge vereint.
In allen Fällen stand das Sichtbarmachen von hinter dem jeweiligen Artefakt stehenden Welt-anschauungen im Zentrum der musikologischen Aufmerksamkeit. Alle Untersuchungen eint ein Erkenntnisinteresse: Neben den Fragen, «Wie etwas gemacht ist» und «Weshalb etwas so ist, wie es ist» werden Antworten gesucht auf die Frage «Was etwas bedeutet».
Anmerkungen
[1] Ralf Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung – Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen 2003, S. 59.
[2] Karl Mannheim: «Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation», in: Jb f. Kunstgeschichte 1 (15), 1921/22, Neudruck in: Wissenssoziologie. Neuwied 1964, S. 91-154, hier S. 97ff.
[3] Ebd., S 108.
[4] Ebd., S. 104.
[5] Götz Pochat: Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983, S. 128.
[6] Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, I–III, Berlin 1923–1929, IV, Berlin 1931, hier I, S. 46.
[7] Ernst Cassirer: An Essay on Man (1944), dt.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1990, S. 49-51.
[8] Erwin Panofsky: «Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance» (1939/1955), dt. in: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978, S.36–67, hier S. 41.
[9] Vgl. ebd.
[10] Johann Konrad Eberlein: «Inhalt und Gehalt: Die ikonographisch-ikonologische Methode», in: Hans Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerländer, Martin Warnke (Hg.): Kunstgeschichte − Eine Einführung, Berlin 1988: S. 169–190, hier S. 171.
[11] Ebd., S 167f.
[12] Roloef van Straten: Einführung in die Ikonografie, Berlin 2004.
[13] Ebd.
[14] Glen Haydon: Introduction to musicology; a survey of the fields, systematic & historical, of musical knowledge & research, New York 1941
[15] Guido Adler: «Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft», in: Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft 1/1885, S. 5–20.
[16] Vgl. Eberlein, a. a. O., S. 171.
Referenz-Untersuchungen
Rolf W. Stoll: «‹With Fear Doth Freeze, With Love Doth Fry› – Welt- und Selbsterfahrung in einem Madrigal des Elisabethanischen Zeitalters». Erstveröffentlichung in: Festschrift Ulrich Siegele zum 60. Geburtstag, hg. von Rudolf Faber, Anton Förster, Hans Ryschawy, Jutta Schmoll-Bartel und Rolf W. Stoll, Kassel 1991. sinustext.com
Hans Ryschawy, Rolf W. Stoll: «Die Bedeutung der Zahl in Dufays Kompositionsart: Nuper rosarum flores», in: Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn (Hg.): Musik-Konzepte Bd. 60: Guillaume Dufay, April 1988, S. 3–73. Überarbeitete und gekürzte Fassung in zwei Teilen: «Von der göttlichen Ordnung der Musik»: sinustext.com
Rolf W. Stoll: Musik: «Wörter, Töne, Zahlen. Guillaume Dufays Chanson Ikonologie als Methode der musikwissenschaftlichen Forschung ‹Mon chier amy›, Erstveröffentlichung in: Neue Zeitschrift für Musik 1/2001, überarbeitet 2017: sinustext.com
Rolf W. Stoll: «Tableau der Zeitenwende – Das Titelbild zu Thomas Morley’s ‹A Plaine and Easie Introduction to Practicall Musicke›,
London 1597, erhebt den Zweifel zum Programm. Zur Entschlüsselung eines Bildprogramms», sinustext.com
Rolf W. Stoll: »‹Consonancia cuncta musica›. Ikonologische Deutung einer Abbildung im Tropar/Prosar von Nevers (11. Jahrhundert)», sinustext.com
Rolf W. Stoll: «Hinter dem Spiegel … Spekulationen über Guillaume de Machauts Rondeau ‹Ma fin est mon commencement …›», sinustext.com