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CONSONANCIA CUNCTA MUSICA

Consonancia cuncta musica. Codex Paris Bibliothèque Nationale, fonds latin 9449, fol.34





Der Codex Paris Bibliothèque Nationale, fonds latin 9449, ein Tropar-Prosar von Nevers aus den Jahren 1059/60, enthält die in Neumen notierten liturgischen Gesänge des kirchlichen Jahres. Er zeigt auf fol.34 eine farbige Abbildung einer Szenerie, auf der zwei Spielleute gemeinsam musizieren. Die Abbildung ist – außerhalb der Initialen – die einzige Miniatur der Handschrift. Ihr voran geht der Dialog «Quem quaeritis in sepulchro, o Christicole?». Ihm folgt die Messe zu Ostern, deren Beginn der Prozessionshymnus «Salve festa dies toto venerabilis evo / Qua deus infernum vicit et astra tenet» (Sei gegrüßt, du festlicher Tag, verehrungswürdig in Ewigkeit / [Tag], an dem Gott die Hölle besiegt hat und aufsteigt zum Sternenzelt) des Dichters Venantius Fortunatus (530–609) vorausgeht.

«Quem quaeritis» (auch: «Visitatio sepulchri» – Besuch des Grabs) ist ein neu gedichteter Zusatz (Tropus) zum Introitus der Ostermesse, der erstmals in einem Manuskript des Klosters St. Gallen aus dem 10. Jahrhundert überliefert ist. Der Tropus ist der erste dialogische Text im Rahmen der mittelalterlichen Liturgie, der auf uns gekommen ist. Am leeren Grab Christi treffen Engel und trauernde Frauen aufeinander, die sich über den Verbleib des Leichnams Jesu austauschen. Möglicherweise wurde die Szene im Gottesdienst antiphonal vorgetragen – damit wird sie zum Vorläufer der später sich entwickelnden geistlichen Spiele und des mittelalterlichen Theaters der städtischen Öffentlichkeit.

Der Text des Dialogs lautet:

Angelus. Quem quaeritis in sepulchro, o Christicolae?

Mulieres. Jesum Nazarenum crucifixum, o caelicolae.

Angelus. Non est hic. Surrexit, sicut praedixerat. Ite, nuntiate, quia surrexit a morte.

Chorus. Surrexit Dominus de sepulchro, qui pro nobis pependit in ligno.

Alleluia, alleluia, alleluia, alleluia, alleluia.

Der Engel: Wen sucht ihr im Grab, ihr Anhängerinnen Christi?

Die Frauen (Maria Magdalena und die Jungfrau Maria): Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten, ihr Himmelsboten.

Der Engel: Er ist nicht hier. Er ist auferstanden, wie er es vorausgesagt hat. Geht und verkündet, dass er aus dem Grab auferstanden ist.

Chor: Der Herr ist auferstanden aus dem Grab, er, der für uns am Kreuz hing.

Unmittelbar vor der Abbildung stehen diese Verse:

Hæc est clara dies, clararum clara dierum,

Hæc est sancta dies, sanctarum sancta dierum,

Nobile nobilius rutilans diadema dierum.

Ecce, dies toto rutilat festivior anno,

Qua Deus omnipotens superata morte resurgens

Traxit ab infernis captorum mille cavernis.

Dies ist der klare Tag, von klaren Tagen der klarste,

Dies ist der heilige Tag, der heiligste heiliger Tage,

Edler leuchtet er auf, die edle Krone der Tage.

Festlicher als das ganze Jahr erglänzt seine Leuchte,

An dem Gott den Tod überwand, vom Tode erstehend,

Und aus höllischem Schlund die gefangenen Seelen befreite. [1]

Da der Scriptor der Handschrift die Osterliturgie auf einem neuen Blatt beginnen lassen wollte, entstand auf fol.34 ein Freiraum, der mit der Zeichnung gefüllt wurde. Ihr Verfertiger war – darauf lässt die in manchem ungeschickte Ausführung schließen – des Zeichnens wenig geübt. Dennoch gelingt ihm eine lebendige und farbenfrohe Darstellung der Szene, die uns Zeugnis gibt von der magie- und symboldurchdrungenen Vorstellungswelt der Menschen kurz nach der Wende zum zweiten Jahrtausend.

Das Kreuz

Im Zentrum der Abbildung, zwischen den beiden Spielleuten, steht ein stilisiertes Palmblatt. Es entwächst wie ein Baum einem dreistufigen Sockel, der gemeinhin die Stätte der Kreuzigung Jesu, Golgatha, symbolisiert. Seine Dreistufigkeit versinnbildlicht Geburt, Passion und Auferste-hung des Gekreuzigten. Den kunstvoll geflochtenen «Stamm» der Palme umrankt in symmetrischer Weise eine Lilie mit vier Blüten zu je drei Blütenblättern. In das Palmblatt hinein wurde der Umriss einer weiteren Lilienblüte gezeichnet. Die insgesamt fünf Blüten können für die fünf Wunden Christi am Kreuz.

Dem mittelalterlich-christlichen Verständnis gilt die Palme als Baum des Lebens. Aus ihm wurde das Kreuz gefertigt; sie verweist also auf den Kreuzestod und die Auferstehung Jesu. Das lateinische crux ist eine Übersetzung des hebräischen etz. etz bedeutet sowohl Holz als auch Baum. Die hier abgebildete Palme/Lilie kann also ohne Schwierigkeit als Kreuz Christi interpretiert werden.

Die Lilie, die hier mit der Palme symbiotisch verschmilzt, ist ein Christus-Symbol und in der Dreizahl ihrer Blütenblätter Symbol der Dreifaltigkeit des christlichen Gottes.

Möglicherweise ist in der Lilie aber auch die Jungfrau Maria, als deren Symbol sie gilt, symbolisiert. Dann könnte die Mischpflanze erneut als Sinnbild für die Geburt, Kreuzestod und Auferstehung Jesu gelesen werden.

Das nahezu achsensymmetrisch angelegte Palmblatt/die Lilie steht exakt in der Mitte des eingeritzten Satzspiegels. Es scheint, als sei diese Figur zuerst gezeichnet. Die Spielleute – der linke greift deutlich in den leeren Raum über (was v.a. dem «wilden» Musiziergestus geschuldet ist), der rechte bescheidet sich mit dem verfügbaren Raum in Fortsetzung des Satzspiegels – sind offenbar in einem zweiten Arbeitsgang hinzugekommen. Schließlich wurden die Neumen sowie die Bildinschrift Consonancia cuncta musica hinzugefügt. Zeichenduktus und Farbgebung weisen allerdings darauf hin, dass die Szenerie als Ganze entworfen wurde.

Die Spielleute

Zu beiden Seiten der Palme/Lilie ist jeweils ein Spielmann platziert:

- links ein tanzend-musizierender Rebec-Spieler. Seine Schrägstellung und die weit auseinander stehenden Beine, schließlich das nach hinten ausschwingende Kleid vermitteln die wilde Dynamik seiner Bewegungen beim Musizieren, die von den Klerikern des Mittelalters mit den Bewegungen des Teufels verglichen wurden;

- rechts der Spieler eines Blasinstruments, das bislang als Sackpfeife gedeutet wurde. [2] Gegen diese Deutung lässt sich allerhand einwenden: Zunächst einmal ist der Luftsack nicht eindeutig zu identifizieren (eher handelt es sich um den misslungenen zweiten Arm des Spielers); sodann ist deutlich zu sehen, dass das Rohr, in das der Musiker bläst, nicht in den Luftsack führt und schließlich fehlen die für einen Dudelsack typischen Bordunpfeifen. Viel eher handelt es sich hier um eine Schalmei (vielleicht auch um einen Zink), worauf der Schalltrichter, die Daumenstellung der linken Hand und die sieben Finger, die an der Oberseite des Instruments platziert sind, verweisen (das Instrument besitzt sieben vorderständige und ein rückseitiges, durch den Daumen der linken Hand zu deckendes Griffloch). Der Mund des Spielers ist fest geschlossen, seine Backen sind aufgeblasen, was auf das Blasen eines Doppelrohrblatts (Schalmei) oder eines Trompetenmundstücks (Zink) hindeutet. Seine Bewegung erscheint gemäßigt, was vielleicht mit seiner musikalischen Funktion korrespondiert. Die Schalmei und auch der Zink gehören zur Gruppe der fistulae, die von den kirchlichen Autoritäten in Verbindung mit heidnischen Riten und orgiastischen Kulten (etwa dem Pan- und Dionysoskult) gebracht und damit zu Symbolen des Teufels wurden. Die untere Hälfte auf dem Titel des Tripelpsalters von St.Remy zeigt Rebec und Zink der Spielleute als Instrumente des Teufels:

Titelseite des Tripelpsalters von St.Remy, 2. Viertel des 12. Jhdt.

«Die Teufel treten nicht nur als sie selbst und in eigener Gestalt unter den Menschen auf, um sie mit Musik und Tanz zu verführen, sie haben auch ihre menschlichen Helfer, deren sie sich mit Erfolg bedienen. Hier stehen an erster Stelle die Spielleute, die von Berufs wegen mit Instrumen-talmusik und Tanz verbunden sind. Die Spielleute und ihr Tun, die für den empfänglichen mittelalterlichen Menschen geradezu magische Gewalt ihrer Musik, die durch sie ausgelöste, oft bis zur Extase und Raserei gesteigerte Tanzbesessenheit mussten der Kirche zutiefst verdächtig erscheinen. Auch spürte man auf kirchlicher Seite, und zwar mit geschicht-lichem Recht, dass im Spielmännischen uralte heidnische Traditionen, vor- und außerchristliche Elemente lebendig geblieben waren, die man ablehnte und deshalb verteufelte.» [3] Honorius von Autun beant-wortet die Frage, ob für die Spielleute Hoffnung auf das ewige Leben hätten, so: «Nullam: tota namque intentione sunt ministri Satanae». [4]

Die Neumen

Dem Musikern zugeordnet sind zwei stereotype Neumenfolgen:

– dem linken in fünf Scandici-ähnlichen Zeichen notierte Fünftonfolgen,

– dem rechten in fünf Climaci-ähnlichen Zeichen notierte Viertonfolgen.

Beide Notate sind symmetrisch zur Palme/Lilie angeordnet, ja, scheinen zu ihr hin bzw. von ihr auszugehen (dem Schreiber/Zeichner wäre es ein Leichtes gewesen, die Neumenfolgen unter der Szenerie und in horizontaler Anordnung zu platzieren). Die linke Tonfolge ist eine aufsteigende, die rechte eine absteigende. Auffällig ist auch die Tatsache, dass es sich um je fünf nahezu identische Tonfolgen handelt. Möglich scheint allerdings auch, dass sie sukzessive von der Palme/ Lilie aus (ähnlich sich fortpflanzenden Schallwellen) «gespendet» werden. Stifter dieser Musik wäre dann der Gekreuzigte. Die Fünfzahl der Neumenfolgen korrespondiert jeweils mit der Anzahl der Silben der den beiden Spielleuten zugewiesenen Teile der Bildinschrift Consonancia cuncta musica.

Der Knoten (nodus)

Ein Detail, das sich am «Stamm» der Palme/Lilie befindet, blieb bislang unerwähnt: ein Knoten, dem – so unscheinbar er wirken mag – besondere Bedeutung zukommt. Der Knoten, dessen Linien hier zusätzlich ein Kreuz bilden, ist ein Motiv, das uns auf Amuletten, Medaillons, Reliefs, an Trinkgefäßen und an Säulen zu allen Zeiten und in vielen Kulturen (beispielsweise in der hellenistisch-römischen Zeit, im byzantinischen Kulturkreis, aber auch im christlichen Abendland) begegnet. Ein Knotensäulen-Paar befindet sich im Würzburger Dom (s. Abb.). Dort sind die Begriffe Boaz (oder Booz) und Jachin (oder Jakim) eingemeißelt. Sie gehen zurück auf das Alte Testament. In Könige 7,13 – 22 und Chronik 3,15 – 17 bzw. 4,11 – 13 wird die Ausstattung des Tempel Salomos in Jerusalem beschrieben. Dabei finden auch die Säulen Erwähnung:

21. Er errichtete die Säulen in der Vorhalle des Tempels; / die Säule, die er zur Rechten aufgestellt hatte, nannte er Jachin, / die Säule, die er links aufgestellt hatte, Boas.

22. Oben liefen die Säulen lilienförmig aus. / So wurde die Verfertigung der Säulen vollendet. (Könige 7,21–22)

Das hebräische Wort Jachin bedeutet «gründen», «befestigen», «aufstellen», der Begriff Boas hat mit «Macht» und «Stärke» zu tun. Die aus Bronze gearbeiteten Säulen des Salomonischen Bauwerks und ihre Namen sollten also Stärke und Dauerhaftigkeit des Tempels beschwören, sie symbolisierten zugleich Festigkeit im Glauben. Das verstanden gewiss auch die Betrachter der beiden Würzburger Knotensäulen, die vor ihrem Abbruch die Westtorhalle von St. Kilian zierten.

Im Volksglauben erhielten Knoten aber noch eine weitere Bedeutung: Sie dienten der Abwehr von Unheil, der Verhinderung und Vertreibung von Schaden aller Art. In diesem Sinn sind sie als «apotropäisch» (mit Abwehrzauber versehen) zu bezeichnen. Diese volkstümliche Bedeutung kann auch den Knoten an mittelalterlichen Säulen zugeschrieben werden. Knotensäulen galten als probates Mittel, das Böse von einem Gebäude fernzuhalten. Im Volksmund waren dafür die Bezeichnungen «Hexensäule» oder «Teufelsknoten» gebräuchlich. (In diesen Zusammenhang gehören im Übrigen auch die «Bestiarien-Säulen» der Romanik.)

Die Instrumente Rebec und Schalmei (auch der Zink) sind – in Händen von Spielleuten – Instrumente des Teufels. So erscheint es möglich, dass der Knoten im Stamm der Palme/Lilie der Abwehr des Bösen dient, das durch die Spielleute und ihre Musik verkörpert wird. Bei Dante Aligheri allerdings stehen die «nodi strani», die «seltsamen Knoten», für das Geheimnis Gott.

Die hier zu vermutende Musik der beiden Spielleute steht in krassem Gegensatz zum nachfolgenden Introitus der Osterliturgie: dieser ist einstimmig, von getragenem Gestus, den Schmerz über die Kreuzigung und den Tod Jesu noch nicht ganz hinter sich lassend; jene ist mehrstimmig, lebhaft und von ausgelassener Freude.

Der Schreiber/Zeichner, ein gläubiges und gewiss auch gehorsames Glied der Kirche, vereint hier zwei Aspekte miteinander. Die «teuflische» Musik der Spielleute wird geschickt durch den Knoten im Stamm der Palme gebannt. So kann die Alltagserfahrung, nach der die Musik von Spielleuten Ausdruck von (Lebens-) Freude ist, für die Botschaft nutzbar gemacht werden: eine Allegorie auf die Auferstehung des Herrn. Die «gefangenen Seelen» der Spielleute sind durch das Opfer Jesu «aus höllischem Schlund» befreit. Ihre Musik erscheint angesichts dieses Ereignisses als Ausdruck der Freude über das heilsgeschichtliche Ereignis, mit dem Gott die Hölle besiegt hat.

Die Bildinschrift

Consonantia ist die lat. Lehnübersetzung des griechischen Begriffs συμφωνι´α. Boethius, dessen Autorität viele Jahrhunderte überdauerte, definiert die Verbindung zweier Töne mit unterschiedlichen Tonhöhen, die sich durch einfache Zahlenproportion auszeichnet, als «Verschmelzung» (consonantia). Quinte (3:2), Quarte (4:3) und Oktave (2:1) sind ihm die primär konsonanten Intervalle. Seit dem Beginn des 11. Jh. findet der Terminus consonantia dann auch Anwendung auf sukzessiv erklingende Folgen zweier Töne (Intervalle). [5]

Schriftliche Aufzeichnungen von Spielmannsmusik jener Zeit existieren nicht. Es erscheint mir – im Gegensatz zu früheren Deutungen – daher mehr als unwahrscheinlich, dass in der vorliegenden Abbildung eine solche beabsichtigt war. Die Ausführung der abgebildeten Notation ergäbe musikalisch auch wenig Sinn. Sie kann daher nur symbolisch gemeint sein.

Die Dreiwort-Aussage Consonancia cuncta musica, die mit «Der Zusammenklang ist der Inbegriff der Musik» übersetzt wurde, wäre treffender vielleicht so zu verstehen: «Alle Musik besteht aus sukzessiven und simultanen Zusammenklängen». Mit dieser Übersetzung können die abgebildete Neumen – hier werden die primär konsonierenden Intervalle der Quinte (Fünftonfolgen) und der Quarte (Viertonfolgen) gezeigt – als jeweils «sukzessive Konsonanz» wie auch die beiden Spielleute, die den simultanen Zusammenklang pflegen, verstanden werden. Dem Zeichner von fol.34 wäre damit tatsächlich eine Abbildung «aller Musik» (cuncta musica) gelungen.

Anmerkungen

[1] Deutsch von Friedrich Wolters (1876 - 1930)

[2] Andreas Holschneider: «Consonancia – cuncta musica. Eine Miniatur im Tropar-Prosar von Nevers, Codex Paris Bibliothèque Nationale, fonds latin 9449», in: Die Musikforschung 8, S. 1-19.

[3] Hammerstein: Diabolus in musica. Studien zur Ikonographie des Mittelalters, München 1974

[4] Zit. n. Hammerstein, ebda.

[5] Zur Begriffsklärung s. Michael Beiche: «Consonantia – Dissonantia/Konsonanz – Dissonanz», in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 32. Auslieferung, Winter 2001/02.

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