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TABLEAU DER ZEITENWENDE – Das Titelbild zu Thomas Morley’s «A Plaine and Easie Introduction to Practicall musicke



Thomas Morleys Plaine and Easie Introduction to Practicall Musicke [1] ist das berühmteste Lehrbuch der Musik in englischer Sprache, das den tiefgreifenden Einfluss der italienischen Musik auf die englische verdeutlicht. Neben theoretischen und musikpraktischen Erörterungen enthält die Schrift auch eine Reihe von Musikbeispielen, die die italienischen Formen und Gattungen propagieren sollen, sowie einen umfangreichen Anmerkungsapparat. Das Buch ist nach dem antiken Vorbild Platos in Dialogform abgefasst: Morley (Polymathes) unterrichtet einen Musikliebhaber (Philomates) und dessen Bruder (Master). [2] Es ist Morleys Lehrer William Byrd gewidmet.

Die Schrift ziert ein außergewöhnlich reich ausgeführter Titelholzschnitt, dessen Bildprogramm vom Betrachter entschlüsselt werden muss. Er wurde ursprünglich von dem englischen Maler und Holzschneider John Bettes dem Älteren (aktiv ca. 1531 – 1570) [3] für den Erstdruck von William Cuninghams Lehrbuch The Cosmographical Glasse [4] (1559) angefertigt. Weitere Verwendung fand der Titelholzschnitt für John Dowlands The First Booke of Songs, London 1597, noch einmal für Philip Rosseters A Booke of Ayres, London 1601, schließlich für Dowlands Third and Last Booke of Songs and Ayres, London 1603. Alle diese Verwendungen waren – so auch vermerkt auf den Titelseiten – durch Thomas Morley gestattet worden.

Die mehrfache Verwendung solch in der Herstellung teurer Titelbilder war eine übliche Praxis der Zeit. Sie waren als Holzschnitt ausgeführt und konnten daher – Holz ist härter als Kupfer – mehrfach benutzt werden. Bevor der Druckstock für Morleys Schrift benutzt wurde, fand er bereits 1570 noch einmal Verwendung für die Euclid-Übersetzung des Kaufmanns und Bürgermeisters von London, Sir Henry Billingsley: Elements as The elements of geometrie of the most ancient philosopher Euclide of Megara. [5]

Zwischen Weltkugel und Textkartusche findet sich in einem Band das Motto des Bildes:

VIRESCIT VULNERE VERITAS – «Durch die Wunde ergrünt die Wahrheit».

Entsprechend diesem Motto und seiner Funktion als Titelblatt einer gelehrten Schrift über den Kosmos und seine Gesetzmäßigkeiten enthält das Tableau die Repräsentationen einer Reihe Gelehrter der Antike. Ihre Namen sind jeweils genannt:

Die links und rechts der Weltkugel – deutlich zu lesen sind die Bezeichnungen der Erdteile ASIA und AFRICA – abgebildeten Wissenschaftler sind Ptolemäus und Marinus von Tyros.

Claudius Ptolemäus, *um 100, möglicherweise in Ptolemais Hermeiou, Ägypten; † nach 160, vermutlich in Alexandria, war ein griechischer Mathematiker, Geograf, Astronom, Astrologe, Musiktheoretiker und Philosoph. Insbesondere seine drei Werke zur Astronomie, Geografie und Astrologie galten in Europa in der frühen Neuzeit als wichtige Datensammlungen und wissenschaftliche Standardwerke.

Ptolemäus verfasste u. a. den Almagest, eine Abhandlung zur Mathematik und Astronomie in 13 Büchern. Sie war bis zum Ende des Mittelalters ein Standardwerk der Astronomie. Das geozentrische Weltbild, das er vertrat, behielt 1300 Jahre lang seine Gültigkeit. Neben seinen exakten astronomischen Berechnungen verfasste er ein astrologisches Werk (Tetrabiblos), in dem er die Bedeutungen der Sternkonstellationen und deren Einflüsse auf irdische Vorgänge und das menschliche Leben beschrieb und die Verbindung von Tierkreis und Planetenastrologie erörterte.

Ptolemäus, der hier mit Krone (er wurde fälschlicherweise als einer der ptolemäischen Könige Ägyptens angesehen) abgebildet ist, die ihn als den Herrscher im Bereich der astronomischen Wissenschaften auszeichnet, [6] zeigt mit der Rechten auf den Sternenhimmel, seine Linke ruht auf dem Nordpol des Globus; er scheint so auf den wichtigsten Orientierungspunkt des Sternenhimmels, den Polarstern, zu verweisen.

Marinus von Tyros war ein antiker griechischer Geograf, der Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. lebte. Marinus führte das Gradnetz in die Kartenherstellung ein. Sein Werk ist fast nur durch Ptolemäus bekannt, dessen eigene Veröffentlichungen z. T. auf den Vorarbeiten des Marinus gründen.

Marinus’ rechte Hand, die einen Zirkel hält, bezeichnet den Äquator; seine linke Hand zeigt auf eine Karte, die Strabo anzufertigen im Begriff ist.

Außer diesen beiden Autoritäten der Astronomie und des Wissens über Kosmos und Welt, sind weitere Wissenschaftler, deren Namen in lateinischer Schreibweise genannt sind, abgebildet:

Auf der linken Seite sind zu sehen:

Aratus von Soloi (ca. 310 – 245 v. Chr.) war ein antiker griechischer Autor aus Soloi in Kilikien.

Von Aratus ist nur das im Altertum berühmt gewordene Lehrgedicht Phainomena (Himmelserscheinungen) erhalten, das in 1154 Hexametern Fixsterne, Planeten und Wetterzeichen beschreibt und Mythen zur Entstehung der Sternbilder überliefert. Aratus benutzt ein «Quadratum geometricum», wie es bei Petrus Apian 1533 gezeigt und beschrieben wird. [7]

Hipparchus von Nicäa (ca. 190 – 120 v. Chr.) war der bedeutendste griechische Astronom seiner Zeit. Er gilt als Begründer der wissenschaftlichen Astronomie und war auch Geograf und Mathematiker. Er erfand das Astrolabium, erstellte einen Katalog von 850 Fixsternen und maß die Entfernung Erde – Mond zum ersten Mal annähernd genau. Seine Beobachtungen der Planetenbewegungen wurden Ptolemäus zur Grundlage eigener Berechnungen. Ihm ist ein Quadrant beigegeben, mit dem man die Position von Gestirnen ermittelte; er scheint hier die Sonne zu beobachten.

Rechts sind zu sehen:

Strabo (der Schielende); (ca. 63 – 23 n. Chr.) war ein antiker griechischer Geschichtsschreiber und Geograf. Er verfasste ein als ergänzend zum Geschichtswerk konzipiertes 17-bändiges geografisches Werk. Hier ist er als Kartograf abgebildet, der auf Anweisung Marinus’ eine Karte von Britannien erstellt.

Polybius von Megalopolis (ca. 200 – 120 v. Chr.) war ein antiker griechischer Geschichtsschreiber. Er war der Verfasser einer auf 40 Bände angelegten Weltgeschichte (Historíai). Polybius, der Strabo beeinflusste, vertrat die Auffassung von einem «Kreislauf der Verfassungen». Er hält einen Messstab in der Hand, ebenfalls im o. g. Buch von Petrus Apian beschrieben, und vermisst damit einen Kometen – möglicherweise handelt es sich hier um den erstmals am Abendhimmel im Februar 1556 beobachtbaren Kometen C1556D1, einen der hellsten Himmelserscheinungen des Jahrhunderts. Kometen wurden in alter Zeit als Künder großen Unheils bzw. großer Veränderungen angesehen. Polybius scheint ihn hier als bedeutend in Bezug auf seine Schilderungen der Weltgeschichte anzusehen.

Das untere Drittel des Tableaus wird von den Personifikationen der vier Wissenschaften des Quadriviums eingenommen:

Geometria (mit Winkel, Lineal und Zirkel)

Arithmetica, (mit Zahlentafel)

Astronomia (mit Armillarsphäre) und

Musica (mit aufgeschlagenem Notenbuch und Laute)

Neben diesen historisch verbürgten Personen und den Personifikationen der mathematischen Wissenschaften enthält das Tableau weitere Abbildungen. Worauf verweisen sie und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander und zum einbeschriebenen Motto?

Die gesamte Szenerie wird dominiert von einer bocksbeinigen geflügelten Gestalt, halb Mensch, halb Tier, mit Sense und drei männlichen Figuren unterschiedlichen Alters: einem Kind, einem erwachsenen Mann und einem Greis. Es handelt sich dabei um Saturn, den (hinkenden) Gott der Zeit, der hier als Chronos erscheint, und die ihn begleitenden drei Lebensalter. Die Figur des Chronos/Saturn [8] vereint hier in zeittypischer Vermischung die Merkmale eines Satyr (Tierleib, Bocksbeine), [9] des Saturn (Sense) und des aus dem Chaos geborenen griechischen Chronos (Flügel), «dessen hauptsächliche Funktion die schicksalhafte Zerstörung alles Irdischen, aber auch die Rettung der Wahrheit und die Bewahrung des Nachruhms ist» [10]. Sie korrespondiert darin aufs Engste mit dem dargestellten Motto Virescit Vulnere Veritas.

Satyr

Ulisse Altrovandi: Monstrorum historia, Bologna 1642

Saturn

Links und rechts dieser Figurengruppe und außerhalb des Bildrahmens sind links ein bekrönter Alter mit Kind, einem Sonnenspiegel und einem Löwen, rechts ein Paar mit Mondspiegel und Krebs situiert. Die Strahlenkränze verweisen jeweils darauf, dass es sich um Götter, möglicher-weise auch um Personifikationen von Himmelskörpern handelt: Links sind Helios/Sol mit Kind (der junge Tag, der Morgen) zu sehen, symbolisch durch die Krone, den Löwen und das Attribut des Sonnenspiegels gekennzeichnet; die rechte Seite zeigt vermutlich seine Schwester Selene (röm. Luna), die Mondgöttin, hier bezeichnet durch Krebs und Mondspiegel. Der Alte, der bei ihr liegt könnte – analog dem Kind auf der Seite des Helios – für den Abend stehen. [11]

Helios

Holzschnitt von Sebald Beham, 1539

In Opposition stehen sich links und rechts der Zeit also

Sonne – Mond

Mann – Frau

Kind – Greis

Morgen – Abend

Löwe – Krebs (die beiden Zeichen Tierkreiszeichen nahe den Sommersolstitien Taghaus/Nachthaus).

Sie bezeichnen das Werden und Vergehen der kosmischen Zeit.

In der Mitte am unteren Bildrand sitzt der Gott Merkur (Hermes) mit geflügeltem Helm. Er hält – entgegen der üblichen Abbildungstradition, vielleicht eine Folge der seitenverkehrten Abbildung des Druckstocks – den Merkurstab in der rechten Hand; mit der linken zeigt er auf das Sternbild der Jungfrau (als Personifikation und mit Symbol des Sternzeichens im Zodiakus mp abgebildet). Zu seiner Rechten sind ist das Sternbild der Zwillinge platziert (ebenfalls als Personifikationen und mit dem Symbol des Sternzeichens II). In astrologischer Hinsicht werden die beiden Sternbilder Zwillinge (3. Haus) und Jungfrau (6. Haus) vom Planeten Merkur beherrscht. Seine Pose ist die eines Verweisenden; die historischen Darstellungen des Hermes schwanken zwischen Gelehrtem – er soll den Menschen nahezu alle Wissenschaften geschenkt haben – und Spaßmacher (Jester, Joker). Hermes/Merkur bringt nicht nur die Botschaften der Götter zu den Menschen, sondern begleitet die menschlichen Seelen auch ins Jenseits, denn «auch der Tod wurde von den Alten als Weg zu neuen Erkenntnissen gedeutet». [12]

Merkur als Gehrter

Holzschnitt von Lucas Cranach, 1539

Unterhalb der Text-Kartuschen ist der Planet Venus mit seinem Planetenzeichen abgebildet. Venus, der Morgen- und Abendstern, ist nach Sonne und Mond der hellste Planet am Himmel; in der Astrologie Gegenspielerin des kriegerischen Mars. Sie steht für Harmonie, Freundschaft und Geselligkeit; unter ihrem Einfluss Geborene werden als den schönen Künsten zugetan beschrieben. Hermes’ (Merkurs) Leidenschaft galt Aphrodite (Venus), die er einst durch eine List gewann. Der aus ihrer Vereinigung entstehende Hermaphrodit spielt in der Alchemie eine bedeutende Rolle. [13] Mit den Symbolen von Löwe, Krebs, Zwillingen und Jungfrau sind die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft bezeichnet.

Mehrere Elemente von Cunninghams Titelholzschnitt lassen ihn auch für Morleys Plaine and Easie Introduction to Practicall Musicke als geeignet erscheinen:

  • Die emblematische Darstellung der grundlegenden Gegebenheiten des kosmischen Geschehens u. a. durch Personifikationen der Planeten und der zugehörigen Tierkreiszeichen;

  • Die Darstellung der Musik als einer Kunst, die gemeinsam mit Geometrie, Arithmetik und Astronomie (um die es in Cuninghams Werk geht) dem Quadrivium zugehört. Auffällig ist hierbei, dass die Attribute Notenbuch und Laute auf die Musikpraxis, nicht auf die Musik als Wissenschaft zeigen, die ein Monochord hätte erwarten lassen.

  • Die zentrale Positionierung der Venus als Planet der Menschen, die den schönen Künsten zugetan sind;

  • Hermes/Merkur, der Planetengott gilt als Erfinder der Musik – er hatte einen Schildkröten-panzer, an den er mit dem Fuß stieß, zum ersten Instrument, einer Lyra, gemacht. Seine verweisende Geste kann möglicherweise auf den Zweck von Morleys Werk bezogen werden: den Unterricht. Seine überkreuzten Beinen können aber auch den Hofnarren meinen, dem alles zu sagen erlaubt ist (dies ggf. in Hinsicht auf die Aussage des Tableaus). Und endlich steht Merkur in der Alchemie für das Quecksilber, mithin die rasche Veränderung.[14]

Darüber hinaus lässt sich die Konstellation Chronos/Saturn – Helios/Sol – Selene/Luna – Erde ebenfalls auf die Musik, genauer: auf die Tonleiter und deren Symbolik beziehen.

Paulus Diaconus (ca. 720–799) hat einen Hymnus zu Ehren des heiligen Johannes des Täufers verfasst, dessen Geburt die römisch katholischen Kirche am 24. Juni – also nahe der Sommersonnwende, einem Datum, das in kosmischer Hinsicht von einiger Bedeutung ist – feiert.

Die erste Strophe dieses Hymnus lautet wie folgt:

UT queant laxis

REsonare fibris

MIra gestorum

FAmulituorum

SOLve polluti

LAbii reatum

SANcte

IOhannes

(Auf dass die Schüler mit lockeren Stimmbändern mögen zum Klingen bringen können die Wunder deiner Taten, löse die Schuld der befleckten Lippe, heiliger Johannes.) [15]

Die Anfangssilben jeder Zeile der Hymne bilden die Solmisationssilben auf die Töne der Tonleiter (Guido fasste später die Silben SAN und IO zu SI zusammen). Ebenfalls der Tonleiter zugeordnet werden seit dem Mittelalter die sieben damals bekannten Planeten: Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus Merkur, Mond und Erde.

Abb. nach: Viret/Chailley

Auf die vier Himmelskörper Saturn, Sonne, Mond und Erde, die das oberste Drittel des Tableaus bestimmen, entfallen diese Tonsilben:

Saturn – RE

Sonne _ SOL

Mond – UT

Erde – IO

Jacques Viret und Jacques Chailley haben darin den Begriff RESOLUTIO (der auch in der Alchemie von fundamentaler Bedeutung ist) erkannt. Er bezeichnet das zentrale Mysterium der Natur, den Kreislauf von Werden und Vergehen. [16] Diese zentrale Botschaft lässt den Holz-schnitt sowohl für Cuninghams Werk über die Astronomie, als auch für Billinghams Übersetzung der Elemente des Euclid und schließlich für Morleys umfassendes Unterrichtswerk über die musikalische Kunst, eine Zeitkunst, geeignet erscheinen.

Ich fasse sie in folgender Abbildung zusammen:

Dies alles wird gezeigt in einem Rahmen, der seinerseits bedeutungstragend ist. Tableau und Kartusche sind mit starken Umrandungen versehen. Sie begegnen als Mauern in den Abbildungen früher Kirchenbauten, der Basiliken, deren Urbild im zweiten Jahrhundert v. Chr. in Rom entstanden war.

Tempel der Aphrodite, im 5. Jahrhundert zur Basilika umgebaut

Urform der Basilika

Grundriss der Basilika Porcia, Rom

Hans Sedlmayr hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Basilika stets den Thronsaal nachbildet, die Apsis darin den Kosmokrator beherbergt. [17] Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade beschreibt die Basilika als kosmologische Struktur, deren Bau die Kosmogonie der Götter nachbilde. [18]

Deutlich unterschieden werden können auf unserem Holzschnitt eine Apsis, eine «Dreischiffigkeit» und eine Cella (Chorraum). Genau diese Baukörper sind es, die die Architektur der Basilika bestimmen. Die Apsis ist im vorliegenden Fall Chronos/Saturn vorbehalten, der als Herrscher über die zyklische Zeit, als Kosmokrator, erscheint. Die Das Motto Virescit Vulnere Veritas steht an der Stelle des Altars (vor der Apsis); die abgebildeten Wissenschaftler belegen die beiden Seitenschiffe, die Cella (die im Tempel der Aphrodite noch existiert, auf die die Basilika später aber verzichtet) nimmt jeweils den Titel der Schrift auf. Die vier Ecken des Bauwerks schließlich sind – vermittelt über die Tierkreiszeichen – durch die vier Grundelemente allen Seins Feuer, Wasser, Erde und Luft bezeichnet.

Während die Zeit in der Kunst der Antike entweder als Kairos, die günstige Gelegenheit, oder als Aion, die schöpferische Ewigkeit, dargestellt wurde, kommt der Figur des Chronos, wie sie unter Rückgriff auf die Gestalt des Kronos im Zeitalter des Humanismus ausgebildet wurde, eine andere Bedeutung zu: Erwin Panofsky, der die Genese der Figur des «Vater Chronos» detailliert nachgezeichnet hat, kommt zu dem Ergebnis, dass es für die Kunst der Renaissance charakteristisch sei, «dass sie ein Bild der Zeit als Zerstörerin schuf, indem sie eine Verkörperung des ‹Temps› mit der furchterregenden Gestalt Saturns verschmolz und dadurch den Typ des ‹Vater Chronos› mit einer Vielfalt neuer Bedeutungen versah. Nur durch die Zerstörung falscher Werte kann die Zeit ihre Aufgabe erfüllen, die Wahrheit zu entschleiern. Nur als Prinzip der Veränderung und Neuerung kann sie ihre wahrhaft universale Macht offenbaren.» [19]

John Bettes’ Holzschnitt ist eine differenzierte und aus der historischen Überlieferung schöpfende Darstellung des im 16. Jahrhundert geltenden Verständnisses vom kosmischen Geschehen. In seinem zentral platzierten Motto zeigt es zugleich den Willen, über diese hinauszugehen und fordert mit der Gestalt des Chronos und dem Motto Virescit Vulnere Veritas – gelesen als: «Nur der Zweifel führt zur Wahrheit» – unmissverständlich zur Infragestellung und schließlich zur Überwindung geltender Anschauungen auf. Er gibt damit Zeugnis von der «Suche nach Wahrheit in der Erfahrung der Welt und der Geschichte des Menschen» [20] – zum Preis, besser: unter der Voraussetzung, dass es zur Verletzung der geltenden Anschauungen kommt. Er zeigt eine sich im Umbruch befindliche Welt, ein Tableau des Zeitenwandels. Eben dies ist auch der Anspruch, den Thomas Morley mit seiner Plaine and Easie Introduction to Practicall Musicke vertritt: die Erneuerung der englischen Musik durch die Propagierung der nuova maniera italiana.

Anmerkungen

[1] Die vollständige Inschrift der Kartusche lautet: A Plaine and Easie Introduction to Practicall Musicke, set downe in forme of a dialogue Devided into three partes, The first teacheth to sing with all things necessary for the knowledge of prickt-song.

The second threatheth of descante and to sing two parts in one upon a plainsong or ground with other things necessary for a descanter.

The third and last part entreateth of composition of three, foure, five or more parts with many profitable rules tot hat effect. With new song of 2, 3, 4, and 5 parts.

By Thomas Morley, Batcheler of musick, & one oft he gents of hir Maiesties Royall Chappell.

Imprinted at London by Peter Short dwelling on Breedstreet hill at the signe oft he Starre. 1597

[2] «Die Renaissance ist die europäische Epoche, wo, wie nie zuvor, die Welt der Diskurse von der Idee des Gesprächs durchdrungen wird, das Gespräch zum Paradigma einer neuen Geselligkeit und einer neuen Hinwendung zur Welt wird, getragen vom Verlangen und von der Hoffnung nach einer Unmittelbarkeit des Zugangs zur Welt der Erfahrung wie zu den Grundfragen des menschlichen Daseins. Das Bewusstsein der Wiedergeburt, das diese Epoche seit ihren Anfängen prägt, ist wesentlich ein Bewusstsein des Heraustretens aus einer von den Diskursen christlicher und scholastischer Weltdeutung beherrschten und begrenzten Welt. Die Welt der Antike erscheint in dieser Perspektive als eine Welt der Unmittelbarkeit, die im Zeichen des lebendigen Gesprächs steht. Die Antike wird so zu jener idealen Vergangenheit, wo die sinnliche Erfahrung von einer gleichsam vollkommenen Unschuld war, die Wahrheit sich aus der Unmittelbarkeit der Begegnung im Gespräch ereignishaft zur Erscheinung brachte.» (Karlheinz Stierle: «Gespräch und Diskurs: Ein Versuch im Blick auf Montaigne, Descartes und Pascal» In: Ders./Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch, München 1984, S. 297-334, hier S. 306)

[3] Seine Signatur steht am unteren linken Rand: IB+F (John Bettes Fecit).

[4] The cosmographical glasse conteinyng the pleasant principles of cosmographie, geographie, hydrographie, or nauigation. Compiled by William Cuningham Doctor in Physicke. Cuningham, William, b. 1531. Excussum [sic] Londini: In officina Ioan. Daij typographi, Anno 1559.

556 Ebenfalls gedruckt von von John Daye, London 1570. Eigentlich: Euclid von Alexandria; es handelt sich hierbei um eine häufig anzutreffende Verwechslung.

Das Vorwort zu dieser Ausgabe stammt von John Dee, dem bedeutendsten Mathematiker der Zeit, der von 1527 bis 1608 lebte und sich vor allem für die Verbindung der «okkulten» Wissenschaften mit den mathematischen interessierte. 1564 hatte er ein Werk mit dem Titel Monas Hieroglyphica, mathematice, magice, cabbalistice et onagogice, explicata veröffentlicht. Alchemie, Astrologie und Magie machen nach Dee den mystischen Aufstieg zu Gott als Höhe- und Endpunkt einer Erkenntnis des Kosmos möglich.

[6] Mit Krone wird er beispielsweise auch in Georg Reichs Margarita philosophica (1503/04) gezeigt. Hier leitet ihn die allegorische Gestalt der Astronomia in der Beobachtung des Sternenhimmels an (s. Abb.)

[7] Cuninghams Text und die Bilder kombinierten Elemente aus den Werken von Peter Apian und Oronce Finé sowie des englischen Mathematikers Robert Recorde. Petrus Apian: Instrument Buch, Ingoldstadt 1533.

[8] Chronos darf – obgleich dies seit der Renaissance und bis heute immer wieder geschieht – nicht verwechselt werden mit dem griechischen Kronos, dem Sohn der Gaia und des Uranos, dem Anführer der Titanen und Vater des Zeus, der in der römischen Mythologie zu Saturnus wird.

Der Planet Saturn beherrscht die in Opposition zu Löwe und Krebs stehenden Tierkreiszeichen Wassermann und Steinbock.

[9] Ähnlichkeit zur hier abgebildeten Figur zeigt z. B. die Darstellung eines Satyr von Ulisse Altrovandi (1522–1605). Ulisse Altrovandi: Monstrorum historia cum Paralipomenis historiae omnium animalium, Bologna, 1642.

[10] Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, Frankfurt am Main 1990, S. 313

[11] Der Deutung S.K. Heningers, der die beiden Gestalten als Darstellung des Hermaphroditen sieht, mag ich nicht folgen. Zum einen vernachlässigt er die Tatsache, dass die Gestalt der linken Seite eine Krone trägt, die ihn eindeutig als Helios bzw. Jupiter charakterisiert, zum anderen werden Hermaphroditen (rechte Seite) in der ikonografischen Tradition stets als junge Menschen dargestellt.

[12] Vgl. S. Golowin/M. Eliade/J. Campbell: Die großen Mythen der Menschheit, Adligenswil 1998, S. 127. Cuningham nennt auf S. 134 seiner Cosmographical Glasse zwei bedeutsame Orte im Zusammenhang mit den Sternzeichen Zwillinge und Jungfrau: Zwillinge und Merkur bezieht er an dieser Stelle u. a. auf London (den Ort, an dem Cuninghams Werk gedruckt wurde), Jungfrau und Merkur auf Heidelberg, seinen Studienort.

[13] Auch eine andere Lesart scheint allerdings möglich: Als Gott der Wissenschaften ist Hermes eng mit der Alchemie verbunden. Wollten die Alchemisten ein Gefäß sicher verschließen, so taten sie das «mit dem Siegel des Hermes» [cum sigillo hermetis]. Unser Wort «hermetisch» entstammt dieser historischen Schicht. Durch seine enge Verbindung zur Alchemie wird Hermes häufig in die Nähe der Zauberkunst gerückt und auch als Gott der Magier, Gaukler und Diebe bezeichnet, eine Art „schelmischer Tunichtgut“ (Trickster). Die Körperhaltung des Hermes/Mercurius auf unserem Holzschnitt (überkreuzte Beine, das Zeigen auf etwas, der Caduceus in der rechten Hand) scheint diese Konnotation noch zu transportieren. Kann sein Stab auch der Stab des Hofnarren (engl. jester) sein?

[14] Im Splendor solis, einem illustrierten alchemistischen Manuskript von 1582, wird der Hermaphrodit in Aneinanderreihung dreier analoger Antinomien – Sonne und Mond, Erde und Wasser, Mann und Frau – als Sinnbild der Vereinigung von Gegensätzen erklärt.

[15] Eine Anspielung auf Zacharias, der nach dem Evangelium des Lukas (Lk 1,22) stumm geworden war und dem bei der Geburt seines Sohnes Johannes die Zunge wieder gelöst wurde. Aus demselben Grund war Johannes der Täufer (bevor ihn die hl. Cäcilia ablöste) Patron der Kirchenmusik.

[16] «RESOLUTIO décrit donc le mystère fondamental de la Nature, qui est le cercle sans fin Vie/Mort/Vie, cycle des saisons […] cristianisé comme symbole de la mort et de la Résurrection du Sauveur […]». Jacques Chailley, Jacques Viret: «Le Symbolisme de la gamme», La Revue Musicale, double numéro 408/409 (1988).

[17] Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale, Freiburg i.Br. 1993, S. 114.

[18] Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt am Main 1984, Ausgabe 1998, S.52f.

[19] Erwin Panofsky: «Vater Chronos», in: Ders.: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, 1980, S. 109–124, hier S. 124.

[20] Eugenio Garin: «Der Philosoph und der Magier», in: Ders. (Hg.): Der Mensch der Renaissance, Frankfurt am Main 1996, S. 189.

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